Alt ist das neue jung: Warum Silver Ager keine Alterswohnungen kaufen

Insights, Nachhaltige Wertschöpfung
05.04.2018 Lesezeit: 4 Minute(n)

Das Interview mit Altersforscher François Höpflinger

Alter ist heute kein Stigma mehr, sondern ein Lebensabschnitt, der sich über mehrere Jahrzehnte und Phasen erstreckt. Im Vontobel Interview skizziert Soziologe François Höpflinger, welche neuen Lebenskonzepte die Silver Ager für sich entdecken. Und wie Menschen nach der Pension ihre Identität verändern.

François Höpflinger

François Höpflinger berät und forscht bis heute zu Themen wie dem Wandel der Familie, der Beziehung der Generationen oder Arbeit und Wohnen im Alter.

Sie zählen Chancen, nicht die Jahre: Ab 65 beginnt für viele Jungrentner ein Leben voll neuer Freiheiten und Möglichkeiten. Statt Ruhestand ist Aufbruch das Programm. Denn «alt» fühlen sie mit keiner Faser – und das passende Freizeitbudget haben sie noch dazu. Die Grenze, wann echtes «Alter» beginnt, hat sich weit nach hinten verschoben. Wer das erkennt, entdeckt im Umfeld der Silver Ager vielversprechende Investitionsziele.

Herr Höpflinger, in den Medien werden sie gerne als «Altersforscher» zitiert. Wie beurteilen sie Ihr eigenes Alter, sind Sie «alt»?
(Lacht.) Das kommt ganz auf die Perspektive an. Ich fühle mich zum Beispiel jung genug, auch nach meiner Pensionierung noch für Interviews zur Verfügung zu stehen. Wie gerade eben. Aber für meine vier Enkelkinder bin ich natürlich der Opa – und damit alt.

Generell gefragt, sind die «Alten» heute jünger als früher?
Ja und nein. Demografisch gesehen sind die Alten heute deutlich älter als vor 20 Jahren. Aber in dieser Zeit hat sich auch die Grenze verschoben, wie wir das Alter erleben – und leben. Ein Beispiel dazu: Wenn eine Immobilienfirma «Alterswohnungen» ausschreibt, klammert sie unter Umständen ihre wichtigste Zielgruppe aus. Denn Menschen fühlen sich nicht wirklich alt, solange sie bei sich zuhause leben und über persönliche Entwicklungsspielräume verfügen. Hinzu kommt, dass man das Altwerden nicht einfach hinnimmt, sondern lieber hinauszuzögern versucht. Das erklärt auch, warum Anti-Ageing-Produkte ein wichtiger Wachstumsmarkt wurden.

Ab wann ist man heute im Wortsinn alt?
Eine Befragung von 50-jährigen und älteren Personen hat gezeigt, dass ein Alter jenseits von 80 Jahren als alt wahrgenommen wird. Wissenschaftlich unterscheiden wir heute zwischen dem dritten Lebensalter, den sogenannten «jungen Alten», und dem vierten Lebensalter, den «alten Alten». Die Unterscheidung macht deutlich, dass beide Gruppen an komplett anderen Punkten im Leben stehen: Die jungen Alten starten nach der Pension in eine Zeit voll neuer Freiheiten und Möglichkeiten. Dem gegenüber bestimmt die Wahrnehmung von hochaltrigen Menschen, dass sie sich mit ersten Einschränkungen auseinandersetzen müssen. Sie werden als zu Pflegende, zu Betreuende und zu Versorgende wahrgenommen.

Bleiben wir noch bei den Silver Agern. Geniessen sie sozusagen den Batzen und das Weggli: sie haben Geld, Zeit und sind jugendlich frisch geblieben?
In der Tat entwickelt sich der «Ruhestand» immer häufiger zum «Unruhestand». Heutige Rentnergenerationen sind stärker als ihre Mütter daran gewohnt, in einer mobilen und ständig sich ändernden globalen Gesellschaft zu leben. Dadurch bleiben sie häufiger auch im späteren Lebensalter innovativ und lernbereit. Und anspruchsvoller und wählerischer, was ihre Lebens- und Konsumbedürfnisse betrifft.

«Unruhestand» klingt mehr nach Stress als nach Glück?
Im Gegenteil. In der Schweiz weisen die 65–74-Jährigen die höchste Lebenszufriedenheit auf. Mit ein Grund ist, dass nach der Pension viele Stressfaktoren aus dem Beruf wegfallen. Das schafft Zeit und Musse für Neues: Welchen Aufgaben stelle ich mich jetzt? Was erfüllt mich, welche Rolle erfülle ich in der Gesellschaft?

Erfinden wir uns im Alter also quasi selber neu?
Auf der persönlichen Ebene ändert sich die Identität von Menschen tatsächlich oft: Weil wir plötzlich Grosseltern sind, uns in der Freiwilligenarbeit engagieren, Hobbys nachgehen, die verpasste Weltreise nachholen oder sonst wie einen neuen Sinn im Leben finden. Hingegen belegen alle Untersuchungen, dass sich die grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale mit dem Alter wenig verändern. Wer früher an neuen Dingen interessiert war, bleibt meistens lebenslang offen für Neues. Introvertierte Menschen bleiben introvertiert, passive werden nicht zu Sportlern und so weiter. Erst ab 90 Jahren sind tiefgreifende Veränderungen zu beobachten: Der Fokus sehr alter Menschen verschiebt sich nach und nach auf die Vergangenheit, weil das Kurzzeitgedächtnis nachlässt und ihr intaktes Langzeitgedächtnis Erinnerungen an vergangene Zeiten hochspült.

Welche Rolle spielen Arbeit und Selbstverwirklichung im Rentenalter?
Der Anteil an Frauen und Männern, die auch nach dem 65. Altersjahr weiter in irgendeiner Weise erwerbstätig sind, steigt seit einigen Jahren an. Der akute Fachkräftemangel in vielen Branchen wird diesen Trend sogar noch verstärken. In den meisten Fällen hält die Freude an der Arbeit die Pensionäre im Berufsleben, in anderen Fällen jedoch ist es ein Weitermachen-Müssen, zum Beispiel weil die Renten der Pensionskasse nicht ausreichen. Arbeit im Alter bietet sich dafür an, dass man sie mit Selbstverwirklichungs-Wünschen kombiniert – und dann entweder Teilzeit arbeitet oder als freischaffende Berater sein spezifisches Fachwissen anbietet.

Entsteht da keine Konkurrenzsituation zu jüngeren Generationen?
Zwei Veränderungen zeichnen sich ab: Erstens werden ältere Fachpersonen wertvoller. Ideal erscheint mir, wenn ältere Fachleute im Rentenalter flexibel eingesetzt werden – etwa auf Abruf oder für Ferienvertretungen – und dafür die jüngeren Mitarbeitenden mehr Arbeitsplatzsicherheit erhalten. Zweitens gewinnen nicht-lineare Berufskarrieren an Bedeutung. Das heisst, ältere Personen geben einzelne Verantwortungsfunktionen frühzeitig ab, sind aber trotzdem verfügbar. Sie wechseln von einer Leitungs- zu einer Fachfunktion und machen die Karriereleiter für jüngere Nachfolger frei.

Gehen so nicht peu à peu wertvolle Erfahrungen verloren?
Das hängt stark von der Branche ab. Nur in traditionsorientierten Branchen geht es primär um die Vermittlung von Berufserfahrungen an jüngere Mitarbeitende. In innovationsorientierten Berufsfeldern hingegen zählt stärker, dass man offen ist für neue Ideen, sich weiterbildet und auch gut mit jüngeren Mitarbeitenden, namentlich Frauen, zusammenarbeiten kann. Dann kann eine gute Durchmischung der Generationen die Produktivität und Arbeitsleistung erhöhen – immer vorausgesetzt, im Unternehmen herrschen allgemein gute Arbeitsbeziehungen.

Wer länger arbeitet, eröffnet sich meistens auch finanziell neue Möglichkeiten. Wie vergolden die Silver Agers ihr Alter?
Internationale Reisen und Wellness-Angebote boomen bei wirtschaftlich abgesicherten Silver Agern. Sport- und Kulturangebote werden zunehmend auch von älteren Personen genutzt, ebenso wie e-Banking und e-Commerce, denn die Mehrheit älterer Menschen ist heute digital gut vernetzt. Nicht selten wird nach dem Wegzug der Kinder die eigene Wohnung neu ausgestattet. Gesamtschweizerisch verfügt die Mehrheit der heute pensionierten Frauen und Männer über Wohnbesitz und gut ein Fünftel verfügt nach der Pensionierung über einen zweiten Wohnsitz, zum Beispiel an einem Urlaubsort. Häufig vergolden heutige Silver Agers nicht nur ihr eigenes Alter, sondern sie sind – als Grosseltern – gegenüber ihren Enkelkindern sehr grosszügig. Das führt dazu, dass sich auch die Spielwaren-Industrie verstärkt auf ältere Kunden und Kundinnen ausrichtet.
 

Über François Höpflinger

François Höpflinger ist emeritierter Professor für Soziologie und Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie. Bis 2008 leitete er das universitäre Institut «Alter und Generationen» in Sion, davor 1991 bis 1998 das Forschungsprogramm «Alter» des Schweizerischen Nationalfonds. Seit 2009 forscht Höpflinger selbstständig zu Themen wie Wandel der Familie, Wohnen im Alter, Generationenbeziehungen, Strukturwandel des Alters und Arbeit in späteren Erwerbsjahren.

 

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Wer sind wir? Was macht uns aus? Die Frage nach unserer Identität bewegt die Gesellschaft. Antworten sucht die Kunst, die Wissenschaft, die Politik und jeder einzelne von uns. Das Interview mit Prof. em. François Höpflinger ist einer von zahlreichen Beiträgen, die das Thema Identität aus einem neuen, inspirierenden Blickwinkel beleuchten. Wir publizieren sie hier als Teil unserer Serie «Impact».

 

  

 

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