Erst testen, dann investieren: Die UNO Budgetsimulation für Nachhaltigkeitsziele

Insights, Geopolitik, Nachhaltige Wertschöpfung, Technologie
08.07.2020 Lesezeit: 4 Minute(n)

Eine neue, bahnbrechende Computersimulation soll Regierungen helfen, ihre Ziele in Sachen Nachhaltigkeit zu erreichen

Im Jahr 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Resolution mit insgesamt 17 «sustainable development goals» (SDG): 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Erde, die bis 2030 erreicht werden sollen. Die UNO hat jetzt ihr neues Patentrezept zur Erreichung dieser Ziele veröffentlicht: eine Computersimulation namens «Policy Priority Inference» (PPI).

Nachhaltigkeit vor Augen: Eine aufgeschnittene Chioggia-Rande symbolisiert das Zusammenspiel von nachhaltigem Wachstum und klaren Zielen. Im Innern der Rande sind – einer Zielscheibe gleich – die typischen, rot-weissen Ringe der Chioggia-Sorte zu sehen.


Mit der Simulationssoftware «PPI» (Policy Priority Inference, zu Deutsch: Politik-Priorität-Schlussfolgerung) will die UNO die Welt retten – indem sie ihre Ziele für eine nachhaltige Entwicklung besser mit Budget-Allokationen harmonisiert. © Getty

  

Von
Will Bedingfield,

Redakteur von WIRED.
Seine Recherche veröffentlichen wir hier als Teil unserer Publishing Partnership mit Wired UK.

«Policy Priority Inference» (PPI) ist eine Budget-Software. Sie simuliert eine Regierung und deren Verwaltung, die das Geld für Projekte bereitstellt, um das Land näher an seine Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) heranzuführen. Die Bereiche, in die investiert wird, sind von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Prioritäten einer Regierung. Luis Felipe López-Calva, stellvertretender Generalsekretär der UNO, erklärt das so: «Wir sind der Ansicht, dass die Budget-Struktur des Staatshaushalts eine Menge über politische Entscheidungen aussagt.» In diesem Zusammenhang sieht López-Calva die PPI als «ein Instrument», das «die Diskussion um die politischen Prozesse fördert, die zur Verteilung von Budgets führen».

Durch Fortschritte in diesem Bereich würde theoretisch die Argumentation hinter der Regierungspolitik an Transparenz gewinnen, was es der Öffentlichkeit erleichtert, Regierungsversprechungen und effektive Fortschritte nachzuvollziehen. López-Calva führt aus:

«Die Simulation würde auch ans Licht bringen, wie die verschiedenen Ziele der SDG miteinander in Beziehung stehen.»

An zwei Beispielen erklärt er: «PPI könnte etwa aufzeigen, wie Armut mit Bildungsungleichheit zusammenhängt oder wie Investitionen in bestimmte Energieformen der Umwelt schaden könnten.»

Die PPI wurde von Omar Guerrero, einem Wirtschaftswissenschaftler am University College London und Fellow am Turing Institute, und seinem Forschungspartner, Professor Gonzalo Castañeda vom Zentrum für Forschung und Lehre der Wirtschaftswissenschaften in Mexiko, entwickelt. «Vor einigen Jahren begannen wir darüber nachzudenken, wie wir einen solchen Entwicklungsplan für die Regierungen der Bundesstaaten in Mexiko erstellen könnten», sagt Castañeda. «Weil die Verwaltungen einen sehr lausigen Job gemacht haben und immer noch machen». Aus dieser Beobachtung erwuchs die erste Iteration des PPI. Nachdem Luis Felipe López-Calva, stellvertretender Generalsekretär der UNO, das Papier gelesen hatte, in dem die Funktionsweise der PPI skizziert wurde, dachte er daran, dass die Anpassung der Technologie der UNO helfen könnte, ihre eigenen SDGs zu erreichen.

Einige Regierungen testen das Programm bereits

Von amtierenden Regierungen wurde die Technologie bisher noch nicht eingesetzt, aber das Team ist mit Beamten aus Mexiko, Kolumbien und Uruguay im Gespräch. In Mexiko wurden Workshops mit dem Finanzministerium, dem Nationalen Institut für Statistik, Vertretern von sechs der zweiundreissig mexikanischen Bundesstaaten und Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) durchgeführt. Die Idee ist, dass eine neue Regierung die Erkenntnisse nutzen könnte, um besser zu verstehen, wie die SDGs erreicht werden können. «Zum Beispiel wird geschätzt, dass es in Mexiko bis zum nächsten Jahr schätzungsweise fünf bis zehn Millionen neue Bedürftige geben wird, was bedeutet, dass viele Indikatoren zur Armutsbekämpfung sinken werden», sagt Guerrero. «Wir können also versuchen, das Ausmass der Verzögerungen abzuschätzen», so Guerrero.

Eine der wichtigsten Innovationen des Instruments, auf die López-Calva aufmerksam wurde, ist eine Technik mit dem Namen «Agentenbasierte Modellierung». In seiner simulierten Welt werden Einzelpersonen und Institutionen direkt durch Agenten repräsentiert – in diesem Fall durch Verwaltungen und Regierungen. «Der grösste Teil der Wirtschaft basiert auf dem, was ich als repräsentative Agenten bezeichne, im Wesentlichen also eine Durchschnittsperson», sagt Nigel Gilbert, Professor für computergestützte Sozialwissenschaften an der Universität Surrey. «Wenn man das Agentenmodell benutzt, kann man auf die Durchschnittswerte verzichten.»

Aber die traditionelle neoklassische Wirtschaft geht davon aus, dass Agenten rational handeln, indem sie versuchen, ihren Nutzen zu maximieren. «Das Problem ist, echte Menschen agieren nicht so, nicht einmal Bürokraten», erklärt Gilbert. «Obwohl sie vielleicht gerne glauben würden, dass sie vollkommen rational handeln, sind sie typischerweise ‹begrenzt rational›», sagt er. «Mit anderen Worten, es ist nicht so, dass sie dumme Dinge tun und Entscheidungen völlig willkürlich treffen würden, sondern dass sie nicht unendlich viel Zeit damit verbringen, endlos lange Berechnungen anzustellen, um herauszufinden, was richtig ist.»

Es ist noch nicht die Alleinherrschaft der Algorithmen

In diesem Sinne bietet die agentenbasierte Modellierung eine realistischere Darstellung der Arbeitsweise einer Regierung. «Sie ist besonders nützlich, um zu verstehen, wie wir von tradierten sozialen Normen beeinflusst werden», sagt López-Calva. «Zum Beispiel sollten Frauen, die nicht arbeiten, nicht als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft angesehen werden. Es geht mehr um Zwänge als eine dauerhafte soziale Norm», sagt er.

Im Moment ist die PPI nur ein Programm, das in der Computersprache Python verfasst ist. Das Team arbeitet derzeit daran, einfachere Schnittstellen und effizientere Codes zu generieren. Im nächsten Jahr will Guerrero eine Website erstellen, auf der man Daten zu Indikatoren und Netzwerken per Drag-and-Drop verschieben kann, um Statistiken und Visualisierungen zu erhalten und einfachere Szenarien zu generieren.

Wie effektiv sich die PPI erweist, wird zum grossen Teil von der Qualität der von den Regierungen bereitgestellten Daten abhängen. «Einige Länder haben kein gutes Datenmaterial über ihre Regierungsausgaben», sagt Castañeda. «Andere Länder – insbesondere Mexiko und Norwegen – verfügen über sehr detaillierte Aufzeichnungen. Damit wird das Modell robuster und zuverlässiger.»

Noch nicht abschliessend geklärt ist, ob die PPI ein gültiges Modell für die Probleme einer einzelnen Regierung liefert. Aktuell beruht ihr Modell auf eigenen Annahmen aus der Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaft. «Es gibt viele Modelle», sagt Gilbert. «Die Frage ist, welches das richtige ist und die richtigen Antworten gibt».

Deshalb soll die PPI eine beratende Funktion haben. «Wir wollen nicht behaupten, dass dies das Modell ist, das jeder übernehmen sollte», sagt Guerrero. «Wir wollen aufzeigen, dass dies die Philosophie des Nachdenkens sein kann, wie man politische Prioritäten versteht und Ratschläge erhält.»

PPI sollte weder als Ersatz für die Regierungsarbeit angesehen werden, noch deren Entscheidungen vollständig bestimmen. «Das Instrument informiert den Entscheidungsträger nur, aber bestimmt nicht seine Budgetverteilungen», sagt López-Calva. «Jedes Instrument hat seine Stärken und Schwächen. Deshalb sollte es als Anregung verstanden werden, nicht als Dogma. Es ist noch nicht die Alleinherrschaft der Algorithmen.»

 

  

 

  

 

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