Identität im Fussball: Wie aus Winner-Typen eine Mannschaft wird

Insights, Nachhaltige Wertschöpfung
13.11.2017 Lesezeit: 4 Minute(n)

Auszug eines Interviews mit Trainerlegende Ottmar Hitzfeld

Um exzentrische Einzelspieler in die Mannschaft einzugliedern, machte sich Ottmar Hitzfeld gern die Medien zunutze. Im Vontobel Interview erzählt er, warum beide Seiten davon profitierten. Und mit welchem Kniff er den Konkurrenzkampf unter den Spielern zusätzlich anstachelte – ohne aber die Identität der Mannschaft zu untergraben.

Ottmar Hitzfeld

Ottmar Hitzfeld: Kein Trainer hat durchschnittlich mehr Punkte pro Bundesliga-Spiel erreicht als er. © Foto: Severin Jakob

Er hat die Bayern trainiert, Borussia und auch die Schweizer Nationalmannschaft. Er hat Siege eingespielt und Rekorde aufgestellt. Und er hat es immer wieder geschafft, aus exzentrischen Einzelspielern eine Mannschaft zu formen. Ottmar Hitzfeld hat ein Händchen für die richtige Mischung aus Konkurrenzkampf und Teamgeist. Sein Credo: Wer Spieler einkauft, darf nicht nur auf die fussballerische Klasse achten. Charaktereigenschaften sind genauso wichtig: Wie verhält sich ein Spieler gegenüber den Mitspielern, dem Gegner, den Schiedsrichtern? Reklamiert er ständig oder sucht die Schuld nur bei den anderen? Im Zweifelsfall darf der Trainer auch nicht davor zurückschrecken, sich von populären Spielern zu trennen.

Herr Hitzfeld, wie würden Sie jemandem, der Sie nicht kennt, Ihre Identität beschreiben?
Ich bin gebürtiger Deutscher, fühle mich aber der Schweizer Mentalität und den Schweizer Charakterzügen sehr nahe. Ich bin ein ehrgeiziger und disziplinierter Mensch, vor allem wenn es um Fussball geht. Das war schon während meiner Kindheit so.

Waren Sie in der Schule ein Streber?
Nein, überhaupt nicht. Ich drängte mich nicht in den Vordergrund und antwortete nur, wenn ich gefragt wurde.

Wie stark wirkt sich die Umgebung, in der man die Kindheit erlebt hat, auf die persönliche Identität aus?
Ich glaube, der Einfluss der Eltern ist sehr hoch und prägt einen Menschen. Allerdings ist die Identität ja nicht statisch. Sie verändert sich permanent, zum Guten oder zum Schlechten.

Wie verträgt sich Individualität mit Mannschaftssport?
Der Trainer muss spüren, wie viel Individualität − oder besser, wie viele exzentrische Charaktere − die Mannschaft erträgt. Zwei bis drei solche Spieler sind in der Regel zu verkraften. Es ist jedoch Aufgabe des Trainers, die Grenzen herauszufinden und dafür zu sorgen, dass sich auch exzentrische Spieler ins Team einordnen und sich mit dem Club identifizieren.

Wie haben Sie dies während Ihrer langjährigen Trainertätigkeit bei Bayern München geschafft?
Das Wichtigste: Man darf die Winner-Mentalität der Mannschaft nie als gegeben betrachten. Das ist ein permanenter Prozess. Ich musste jede Woche an den Teamgeist appellieren und Einzelgespräche führen, um den Spielern das Verhalten im Team beizubringen.

Wenn der Trainer merkt, dass er mit einzelnen Spielern nicht zurechtkommt, kann er der Clubleitung den Verkauf empfehlen …
Ja, das kam öfters vor. Wenn Einzelgespräche und Sanktionen, auch öffentliche Sanktionen, nichts gebracht haben, ist eine Trennung der beste Weg.

Öffentliche Sanktionen?
Der Trainer kann einen Spieler beispielsweise in einem Interview «anzählen» und ihn an seine Pflicht zum Mannschaftsspiel ermahnen. Nützt dies nichts, muss man sich vom Spieler trennen.

Sie machen sich die Medien für Ihre eigenen Ziele zunutze?
Ja. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Beide Seiten profitieren. Viele Trainer haben von der Presse ein Feindbild. Das finde ich nicht richtig. Spieler und Trainer werden schliesslich durch die Medien zu Stars gemacht, wodurch sie mehr verdienen.

Wie empfanden Sie den Umgang mit den Medien?
Er verlangt viel Disziplin. Man muss sich jedes Wort gut überlegen. Bei Bayern hatten wir praktisch jeden Tag eine Pressekonferenz. Die Medien waren fast zu jedem Training zugelassen. Heute sind öffentliche Trainings die absolute Ausnahme. Pep Guardiola (Trainer von Manchester City, Anm. d. R.) schliesst die Fans vom Trainingsgelände sogar ganz aus.

Bedauern Sie diese Entwicklung?
Ich finde es schade, denn die Fans sind die Basis jedes Clubs. Die Fans sollten sich mit den Spielern und die Spieler mit den Fans identifizieren.

Welche Faktoren unterstützen die Identitätsbildung im Team?
Entscheidend ist die Vorbildfunktion, die Integrität. Alles, was ich verlange, muss ich vorleben: Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit.

Ehrlichkeit sagt sich so leicht. In der Praxis dürfte sie nicht leichtfallen, etwa wenn Sie einem Spieler erklären müssen, dass er auf die Tribüne muss …
Ja, das sind harte Entscheidungen. Es sind die Regeln des Mannschaftssports. Trotzdem muss ich ehrlich sein und den Teamgeist vorleben. Die Härte konnte etwas abgemildert werden durch das Rotationsprinzip, das ich bei Bayern München als erster Trainer der Bundesliga eingeführt hatte. So konnten drei bis vier Spieler zusätzlich zum Einsatz kommen. Gleichzeitig wurde so der Konkurrenzkampf unter neu 14 bis 15 Spielern angeheizt.

Wie geht man mit Unterschieden um, die auf die kulturelle Herkunft des Spielers zurückzuführen sind? Für einen Lateinamerikaner ist eine Viertelstunde zu spät noch superpünktlich.
Das ist ein Lernprozess für die Spieler. Sie müssen sich an die hier geltenden Regeln halten.

In welcher Sprache unterhalten Sie sich mit ausländischen Spielern?
Die Amtssprache ist Deutsch. Als ich 2007 Franck Ribéry und Luca Toni zu Bayern holte, zogen wir Dolmetscher bei. Dadurch konnten wir auf persönlicher Ebene und im Detail kommunizieren. Es war aber auch klar, dass die Spieler sofort nach der Einstellung Deutschunterricht nehmen würden.

Hilft es, einzelne Spieler zu Vorbildern für die Mannschaft zu deklarieren?
Ja, ich kann einen Spieler dadurch stärken, sowohl in der Mannschaft als auch in den Medien und in der Öffentlichkeit.

Gibt es so etwas wie die Identität einer Nationalmannschaft?
Ja. Deutsche Tugenden sind die Winner-Mentalität, die Disziplin und die Laufbereitschaft. Deutschland wurde schon 1954 durch Leidenschaft und Kampfgeist Weltmeister, nicht durch ein brillantes Spiel. In Lateinamerika wird allgemein härter gespielt. Südeuropäer bevorzugen das Kombinationsspiel und spielerische Elemente. Osteuropäischen Mannschaften fehlt es meistens etwas an Selbstbewusstsein.

Welche Mannschaft verhält sich vorbildlich, wenn es um den Ausdruck ihrer Identität geht?
Die Italiener, wenn sie vor dem Spiel inbrünstig die Nationalhymne singen. Es gibt keine Nation, die das so vorbildlich macht. Dabei hilft sicher auch der Rhythmus der Hymne.

Wie findet ein Profisportler seine neue Identität nach der Aktivzeit? Welche Probleme können bei diesem Prozess auftauchen?
Die Möglichkeiten im Fussball sind beschränkt. Deshalb ist es wichtig, dass sich ein Spieler auf diese Zeit vorbereitet. Während der Fussballkarriere eine Ausbildung zu absolvieren und erfolgreich abzuschliessen, wie es beispielsweis Oliver Kahn noch gemacht hat, ist heute nicht mehr möglich. Der Spieler muss sich jedoch frühzeitig mit dieser Phase beschäftigen und etwa die Kontakte mit den Sponsoren pflegen. Die Umstellung für den durchschnittlichen Spieler ist jedenfalls erheblich. Die Popularität geht sofort verloren, der Lebensstandard sinkt und die Suche nach einem neuen Lebenssinn ist für viele Spieler eine grosse Herausforderung.

Welches ist Ihre zweitliebste Sportart?
Früher war es Tennis. Seit ich fünfzig bin, ist es Golf. Ich habe es in Bayern mit Beckenbauer und Hoeness gelernt und rasch gemerkt, dass man beim Golfen sehr gut abschalten und sich von den eigenen Problemen loslösen kann.

Lesen Sie das ganze Interview mit Ottmar Hitzfeld im «Impact 2017/18» zum Thema «Identität»
 

Über Ottmar Hitzfeld

Ottmar Hitzfeld machte sich international einen Namen als Trainer von Bayern München und Borussia Dortmund. Von 2008 bis zu seinem definitiven Rücktritt 2014 trainierte er die Schweizer Nationalmannschaft und führte sie zwischenzeitlich bis auf Platz 6 der FIFA-Weltrangliste.

Wer sind wir? Was macht uns aus? Die Frage nach unserer Identität bewegt die Gesellschaft. Antworten sucht die Kunst, die Wissenschaft, die Politik und jeder einzelne von uns. Das Interview mit Ottmar Hitzfeld ist einer von zahlreichen Beiträgen, die das Thema Identität aus einem neuen, inspirierenden Blickwinkel beleuchten.

 

  

 

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