Location-Tracking statt Hausarrest: Die Welt nach Corona
Kriege und Krisen verändern die Welt, wie wir sie kennen. Zeigt uns heute ausgerechnet die Grenzenlosigkeit eines Virus unsere Grenzen als Gesellschaft auf? Unser Interview mit Prof. Voth schärft den Blick nach vorne mit einem Blick in die Vergangenheit – und über kulturelle Gräben hinweg.
Prof. Dr. Hans-Joachim Voth hat sich einen Namen gemacht mit Publikationen wie «The Global Transformation of Time: 1870–1950» (Harvard University Press) sowie mit Forschungen zur Kriegswirtschaft oder der Volatilität der Kapitalmärkte.
Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth im Interview
Herr Voth, egal wie lange die Corona-Pandemie noch andauert: Wird die «Welt danach» eine andere sein – sein müssen?
Man wird sicherlich die Grenzen der Globalisierung überdenken müssen. Die Mobilität ist heute so hoch, dass jeder Virus mit einer Inkubationszeit von mehreren Tagen unübersehbare Folgen haben kann. Dagegen hilft nur – da es an medizinischer Behandlung der Krankheit selbst am Anfang immer mangelt – eine «virtuelle Pestmauer». Historisch versteht man darunter Mauern, die um infizierte Städte herum gebaut wurden – und deren Sperrwirkung mit aller Macht bis hin zum Schiessbefehl verteidigt wurde.
Wie könnte so eine «Pestmauer» heute aussehen?
So, wie sich Europa nach dem Mittelalter gegen die Pest recht effektiv durch Quarantänemassnahmen geschützt hat, können dies moderne Staaten auch tun. Taiwan, Singapur, Südkorea machen es vor. Eine virtuelle Pestmauer müsste vor allem auf Handydaten aufbauen und automatisch alle Kontakte von Infizierten (auch rückwirkend) informieren – und diese müssten dann in Quarantäne. Wer mit Infizierten Kontakt hatte, darf nicht mehr U-Bahn fahren, fliegen oder ins Café. Die Handy-Lokalisierungsdaten so zu verwenden, wie Singapur und Südkorea es tun, wäre essenziell, um eine «virtuelle Pestmauer» zu bauen. So etwas kann jeder funktionierende Staat, solange man das Thema ernst nimmt. So vermeidet man den Hausarrest für ganze Gesellschaften und tauscht ihn gegen ein weniger an Datenschutz und massgeschneiderte Isolierungsvorgaben. Dazu gehört auch eine viel schnellere Umsetzung von Seuchenvorsorgemassnahmen.
Bereits im Dezember hat man in Taiwan auf höchste Alarmstufe geschaltet, während bei uns noch alle in den Skiurlaub fuhren und Chinesen aus Wuhan ohne jede Kontrolle oder Tests einreisen konnten. Taiwan hatte da bereits alle Reisenden dazu verpflichtet, ihre vorherigen Aufenthaltsorte aufzudecken, es wurde schon schnell getestet – es wurde also mit sehr aggressiven Massnahmen der Schutz der Öffentlichkeit priorisiert. Obwohl sehr eng mit China verbunden, sind in Taiwan die Infektions- und Todeszahlen durch das Coronavirus erstaunlich gering geblieben. Diese Krise ist der letzte Weckruf, nachdem wir die letzten drei oder vier verschlafen haben. Mit effektiven, intelligenten Massnahmen wie einer virtuellen Pestmauer könnten wir die grösste Gefahr einer vernetzten Welt – die einer neuen Pandemie, so ansteckend wie Corona, so tödlich wie Ebola – in den Griff bekommen. Ansonsten geht es uns wie dem römischen Reich, das sich von der Pest unter Justinian nie wieder erholt hat.
Wird sich unser Sozialleben verändern? Gehen wir anders miteinander um und leben mehr Gemeinsamkeit und weniger Hedonismus?
Nach Kriegen zum Beispiel sieht man das immer wieder. Leute, die erfahren, wie sehr sie auf andere angewiesen sind, verhalten sich pro-sozialer. Bei Corona ist das aber nicht ausgemacht. Durch mangelnde Rücksichtnahme, durch Club- und Stadionbesuche vieler Bürger zu der Zeit, als die Bedrohung allen bereits klar sein musste, sind viele zusätzliche Infektionen entstanden. Das spricht nicht für gesunden Menschenverstand und soziale Verantwortung.
Werden wieder mehr Kernfunktionen in den Staat zurückgeholt? Kommt der «starke Staat» zurück?
Dass wir demnächst wieder mehr Staat wagen werden, ist wahrscheinlich. Erstmal merkt man: Nur der Nationalstaat ist wirklich handlungsfähig in Krisenzeiten (so wie man das schon in 2008 gemerkt hat). Europa, Weltgesundheitsorganisation, G7: Niemand koordiniert und interveniert effektiv – mit Ausnahme der Nationalstaaten oder der föderalen Länder, die wirklich die Hoheit haben. Die jahrzehntelange Abschmelzung des Staatseinflusses in vielen Bereichen wird erstmal in den Rückwärtsgang schalten. Seuchenprävention, Vorhalten von Intensivmedizineinrichtungen, Grenzschutz, Rettungskapazitäten für die Wirtschaft: All das kann nur ein schlagkräftiger Staat.
Zeigt sich in einer solchen Krise die Kehrseite des Individualismus?
Es gibt diese These, dass die individualistischen Gesellschaften im Westen mit einer solchen Krise nicht gut umgehen können und man die Kultur des Fernen Ostens, von China, Singapur, Hongkong, Korea haben muss, um eine solche Bedrohung schnell anzupacken und in den Griff zu bekommen. In Europa mussten erst Abertausende erkranken, bis man sich zu Einschränkungen hinreissen liess, die China mit 100 Fällen bereits durchgeführt hat. Hubei hatte längst den Shutdown, als Spanien noch den Tag der Frau mit Massendemos feierte, Leute in Paris ins Café gingen und die Berliner U-Bahn voll war. Das muss sicher überdacht werden. Doch Existenzkrisen wie die grossen Kriege haben gezeigt, dass westliche Demokratien, wenn sie erstmal anfangen, eine Sache anzupacken, sich sehr gut schlagen können. Es dauert etwas länger, bis man alle an Bord hat – aber dann kann man viel leisten, viele Opfer verlangen.
Verstärkt sich der Nationalismus weiter und wird die Globalisierung zurückdekliniert? Hat die Freizügigkeit, wie wir sie kennen, ein Ende?
Die Globalisierung in wirtschaftlicher Hinsicht wird sicherlich leiden. Essenziell für die Vorteile des Warenaustausches ist aber der Handel von Gütern. Der führt aber nur selten zu Pandemien. Was man sicherlich überdenken kann und sollte, ist die ganz grosse Freiheit des Reisens. Wochenenden in Paris und Tokio, mal eben Shopping in New York oder London – muss das wirklich sein? Auch kann man die Frage stellen, warum jedes Land der Welt fast ohne Grenze und ohne Quarantäne vorübergehend Menschen willkommen heisst aus Ländern, in denen es wegen der Essgewohnheiten und Lebensweise immer wieder zur Übertragung neuer Viren vom Tier zum Mensch kommt. Der nächste Virus könnte so ansteckend wie Corona und so tödlich wie Ebola sein. Da kann man sicher neue Wege beschreiten – Stichwort «virtuelle Pestmauer».
Gelingt uns der «Rebound nach Corona»?
Die Menschen wissen noch so viel wie vor vier Wochen; die Fabriken stehen noch, und die Bedürfnisse der Menschen sind ebenfalls vorhanden. Solange die Firmen nicht tausendfach in Konkurs gehen und es so zu massiven Verwerfungen kommt, gibt es keinen Grund, warum wir nach dem Ende der Krise nicht bald wieder auf die gleiche Wirtschaftsleistung kommen sollten. Allerdings bedarf es einer massiven Anstrengung der Politik, um all die Organisationsfähigkeiten und das eingewobenen Wissen in den Firmen zu erhalten. Das ist ja auch bei jeder Bankenrettung ein wichtiger Aspekt: Man darf die über Jahre und Jahrzehnte angesammelte Expertise, das erprobte Zusammenspiel hunderter oder tausender von Menschen, und die gelungenen Verbindungen von Kunden mit Firmen nicht einfach so aus dem Fenster werfen.
Natürlich ist derzeit völlig unklar, wann das Ende des Shutdowns kommen kann – ob er zwei Monate dauert oder eher zwölf bis 18 Monate, bis ein Impfstoff und Medikamente auf den Markt kommen. Denn schon bald werden wir eine Diskussion bekommen, die sagt: «Wie lange wollen wir den wirtschaftlichen Kollaps tolerieren, um Alte und Schwache zu schützen – wie lange können wir es uns mit Milliardenkosten leisten, einige tausend Leben zu retten?» Diese Abwägung möchte keiner treffen, aber ein Dauerkollaps der Wirtschaft, Anarchie auf den Strassen und eine Welt frei nach Mad Max sind auch keine Alternative.
Prof. Dr. Hans-Joachim Voth ist UBS Foundation Professor of Macroeconomics and Financial Markets am Department of Economics an der Universität Zürich. Unter anderem forscht er für den Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Projekts «Wages and Veteran Status: The Greatest Draft Lottery in History». Seit 2015 ist Voth Joint Managing Editor beim «Economic Journal».