Mit Routinen brechen
Corona hat uns gezeigt, welche Innovationskraft im Bruch mit Gewohnheiten steckt. Ein Essay über Verhaltensökonomie.
Reich ist, wer ohne Angst auf die eigene Zukunft zugehen kann: neugierig und tatkräftig. Was es für diesen mutigen Schritt nach vorne braucht, zeigt uns ein Blick zurück zur klassischen Philosophie vor 2000 Jahren.
Georg Kohler, emeritierter Professor für politische Philosophie, erforschte die Grundlagen des Politischen und Fragen von Gemeinsinn und Common Sense. © Foto: Ornella Cacacce
Über Prof. Georg Kohler
Georg Kohler ist emeritierter Professor für politische Philosophie der Universität Zürich. Er ist bekannt für seine Forschung zu den Grundlagen des Politischen und Fragen von Gemeinsinn und Common Sense.
Wer viel besitzt, kann trotzdem arm sein. Dann fehlt es an Glück und Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Einen Schlüssel zum wahrhaft reichen Leben liefern uns die Philosophie und die Weisheit der alten Griechen, allen voran Diogenes und Aristoteles. Schon vor über 2000 Jahren haben sie sich mit der Frage befasst, wie wir das Verhältnis zwischen Reichtum, Geld und Glück verstehen können. Zu einer Formel verkürzt könnte man sagen:
Glück = (Freundschaft+Vertrauen) × (Geld+Mut+Unabhängigkeit)
Wer viel besitzt, braucht auch den Mut, frei zu entscheiden, welche der vielen Möglichkeiten für das persönliche Glück die richtige ist. Ohne Mut bleiben wir im Vakuum der Möglichkeiten gefangen. Oder anders gesagt: Wer nicht fähig ist, von dem, was er hat, auch wieder etwas wegzugeben, dem bleibt am Ende gar nichts mehr.
Doch Mut alleine genügt nicht. Es braucht zweitens die innere Unabhängigkeit, Ansprüche und Möglichkeiten im Gleichgewicht zu halten. Nicht mehr zu wollen, als man zur Freude am Leben braucht. Eine Anekdote von Diogenes illustriert dies.
Einst begegnete der mächtige Herrscher Alexander der Grosse dem fröhlichen Asketen Diogenes. Der Bettlerphilosoph lebte in offensichtlicher Bedürfnislosigkeit in einer Tonne. Als Alexander ihn fragte, was er sich von ihm wünscht, antwortete Diogenes: «Geh mir ein wenig aus der Sonne. Mehr brauche ich nicht.» In diesem Moment erkannte der mächtige und wohlhabende Alexander der Grosse den inneren Reichtum des Diogenes und antwortete ihm: «Wäre ich nicht Alexander, wollte ich Diogenes sein.»
Diogenes hatte seine Ansprüche und die Wirklichkeit in Balance gebracht und sich von den Verlockungen anderer unabhängig gemacht. So hatte Diogenes sein Glück gefunden. Diesen seelischen Reichtum kann ihm niemand streitig machen. Auch nicht der mächtigste Mann seiner Zeit.
«Das Glück gehört denen, die sich selbst genügen.»
Aristoteles, griechischer Philosoph
Für die meisten von uns ist radikale Askese kein gangbarer Weg zum Glück. Das war auch Diogenes’ Zeitgenosse Aristoteles klar. Seiner Auffassung nach gehören Besitz und materieller Wohlstand durchaus zum guten Leben dazu. Was Aristoteles für uns aber so wesentlich macht, ist sein Hinweis auf die Mitmenschlichkeit: Die Fähigkeit zu Empathie, Fairness sowie die Bereitschaft, im anderen mehr als einen gefährlichen Konkurrenten, gleichgültigen Fremden oder den eigennützigen Nutzniesser unserer Unzulänglichkeiten zu erkennen. Kurz: Vertrauen und Freundschaft.
Vertrauen und Freundschaft sind die entscheidenden Schlüssel zur Türe, die den materiellen Besitz mit einem sinnvollen Dasein verbindet. Sie geben uns den Mut, den wir brauchen. Den Mut, um erst loszulassen und dann wahrhaft reich zu werden. Erst dann können wir erreichen, was wir allemal erhoffen: dass zu leben uns gefällt.