Wie der Kohleausstieg eine neue Industriekultur befeuern könnte

Insights, Nachhaltige Wertschöpfung
15.10.2020 Lesezeit: 4 Minute(n)

Blick von oben auf einen schweren Bagger, der im Kies-Sand-Boden scharf rechts wendet. Seine Spuren kreuzen sich mit den dunklen Schatten einer grossindustriellen Anlage.

 

Industriekultur am Wendepunkt

 

40 Milliarden Euro stehen in Deutsch­land zur Verfügung, damit der grösste Kohle­produzent und -verbraucher der EU den nachhaltigen Umbau schafft. Bis 2038 hat sich das Land die Frist gesetzt, komplett aus der Förderung des braunen Goldes auszusteigen. Doch präsen­tieren die Kohle­regionen rechzeitig eine Vision für die Wirtschaft danach? Das Geld wäre im Prinzip abrufbereit.

  

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Von
Nate Berg,

freischaffender Journalist mit den Schwerpunkten Städteplanung und neue Technologien. Er schreibt unter anderem für The Guardian, die New York Times u.v.a.m.

Seine Reportage veröffentlichen wir hier als Teil unserer Publishing Partnership mit Wired UK.

  

Bis 2038 ist die deutsche Kohle­industrie endgültig Geschichte, und das, obwohl sie derzeit noch 28 Prozent der Strom­erzeugung ausmacht. Denn im Januar 2020 verabschiedete die deutsche Regierung ihr neues «Kohle­aus­stiegs­gesetz». Dies besagt, dass bis zum Jahr 2038 alle noch existierenden Produktions­stätten geschlossen werden müssen. Das ist eine zweischneidige Angelegenheit: Auf der einen Seite bedeutet das, viele Arbeits­plätze in den betroffenen Regionen wie das ostdeutsche Spremberg in der Lausitz fallen weg – ein Niedergang, der quasi in Zeitlupe abläuft. Andererseits bietet der Kohle­ausstieg auch die Chance, sich jetzt um alternative Konzepte zu kümmern.

Schicksal als Chance

5.000 gut bezahlte Arbeitsplätze fallen weg, wenn Deutschland komplett aus der Kohle aussteigt. Die Hälfte davon ist direkt mit der Kohle verbunden, der Rest indirekt. Und ohne Alternativen konnte der Verlust dieser Arbeitsplätze das Aus für solche und andere Orte der Region bedeuten. «Wenn wir nicht in der Lage sind, schnell neue Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen unserer Stadt und unserer Region zu schaffen, müssen diese Arbeitskräfte abwandern», bekräftigt Sprembergs Bürgermeisterin Christine Herntier, «das ist die grösste Bedrohung für Städte wie Spremberg.» Herntier ist Mitglied der Kohle­kommission und verbrachte einen Grossteil des Jahres 2019 damit, einen Umsetzungsplan für den Kohleausstieg des Landes zu schreiben. Dabei ist der erste Meilenstein, die Braun- und Steinkohleproduktion zu reduzieren – von 42,5 Gigawatt im Jahr 2017 auf 30 Gigawatt bis 2022 und 17 Gigawatt bis 2030. Dafür werden nach und nach die Förderanlagen abgestellt. Zusätzlich sind Fördermittel für die drei wichtigsten Kohleregionen des Landes geplant, die den «Struktur­wandel» vorantreiben sollen. Die Lausitz hat mit rund 14 Milliarden Euro den grössten Anteil erhalten. Nun müssen Herntier und andere Beamte Pläne entwickeln, wie dieses Geld in weniger als zwei Jahrzehnten eine komplett neue Industrie­kultur schaffen kann.

«Der Wandel ist unaufhalt­sam»

Der Verbrauch von Stein- und Braunkohle ist gesunken. Während dieser im Jahr 1990 bei rund 1,2 Milliarden Tonnen lag, waren es 2018 nur noch rund 600 Millionen Tonnen. Stattdessen gewinnen die Länder immer mehr Energie aus Wind und Sonne. «Sich dieser Realität zu stellen, ist für die Kohleregionen unerlässlich, wenn sie in der Lage sein wollen, in einer Post-Kohle-Ära zu überleben», untermauert Pao-Yu Oei, Leiter eines Forschungsprojekts zum Kohleausstieg an der Technischen Universität Berlin. Grossbritannien zum Beispiel, liefert fast die Hälfte der Energie aus Sonne und Wind. Und der Anteil der Kohle am US-Energiemix sinkt weiter, da die Produktion in diesem Jahr voraussichtlich um 25 Prozent heruntergefahren wird. Oei prophezeit: «Die Gemeinden, die diesen Übergang bewältigen, werden profitieren. Die Regionen, die das Thema zu defensiv behandeln, werden zurückbleiben.»

Eine Region erfindet sich neu – mit 40 Milliarden Euro Hilfe

Das Ziel ist es, den Regionen dabei zu helfen, sich neu zu erfinden und eine aussterbende Industrie durch ein oder mehrere Alternativen zu ersetzen. Die 40 Milliarden Euro der Regierung sind der Rettungsanker für die deutschen Kohleregionen, um diese attraktiver zu machen und die Wirtschaft anzukurbeln. In der Region Lausitz hat man zum Beispiel die Ideen, Gemeinde- und Bildungszentren zu eröffnen, stillgelegte Bergwerke in Seen umzuwandeln und die touristische Infrastruktur auszubauen.

Herntier war massgeblich daran beteiligt, die Fördergelder in ihre Region zu leiten – sowohl als Mitglied der Kohlekommission als auch als Co-Sprecherin der Lausitzrunde. Die Lausitzrunde ist ein regionales Gremium von Kommunalbeamten, die sich zusammengeschlossen haben, um den Strukturwandel in der Bergkohleregion voranzutreiben.

Von Kohleenergie zu alternativer Energie

Neben der Fördermittel versuchen zahlreiche Gruppen, die neue Identität der Region Lausitz mitzugestalten. Das Programm «Innovationsregion Lausitz» unterstützt seit fünf Jahren Unternehmerinnen und Unternehmer dabei, sich an neue wirtschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen. Laut Geschäftsführer Hans Rüdiger habe die Organisation bereits mit schätzungsweise 150 Start-ups und kleinen Unternehmen zusammengearbeitet. Sie habe Neugründungen begleitet oder etablierten Unternehmen geholfen, sich für die Zeit nach der Kohle neu aufzustellen.

  

Hans Rüdiger Lange, CEO des Programms Innovationsregion Lausitz:

«Wir müssen nach Möglichkeiten suchen und wir müssen viel unternehmerischer denken als früher.»

  

Dies, so ist Lange überzeugt, sei ebenso eine Frage der mentalen Einstellung.

Das Programm «Lausitzer Perspektiven» hingegen stellt sicher, dass die Einheimischen bei den Finanzplanungen genauso miteinbezogen werden wie die Wirtschaft. Dafür hat sie etliche private Organisationen aus der ganzen Region zusammengezogen. Sie beteiligen sich an einem von der Regierung finanzierten Projekt, die eine regionale Entwicklungsstrategie für das Jahr 2050 erarbeitet. Das Projekt soll eine «zukunftssichere und lebenswerte Lausitz» schaffen – weg von der Kohleenergie hin zu alternativen Energien.

Kraftwerke ohne Emissionen

Um den Kohleausstieg voranzutreiben, investieren immer mehr Unternehmen in alternative Energien. Mit dabei ist unter anderem der Chemiekonzern BASF, der in Schwarzheide eine Batterieanlage für Elektrofahrzeuge eröffnet. Schwarzheide befindet sich 25 Meilen westlich von Spremberg. Die Rohstoffe für Batterien sind zwar immer noch fossile Brennstoffe, verursachen aber nur halb so viele Kohlendioxidemissionen wie Kohle. Und in Spremberg wird in «Schwarze Pumpe», dem bestehenden Industriegebiet der Stadt, ein neues Wasserstoffkraftwerk gebaut. Dabei handelt es sich um einen relativ neuen Kraftwerkstyp, der überschüssige erneuerbare Energie in Form von Wasserstoff speichern und dann über eine Turbine oder eine Brennstoffzelle wieder in Strom umwandeln kann – alles ohne Kohlenstoffemissionen. Zwar kann das Kraftwerk die Verluste der Kohle-Arbeitsplätze nicht vollständig ausgleichen, dennoch entstehen bis zur Eröffnung im Jahr 2025 voraussichtlich zwischen 600 und 800 neue Arbeitsplätze. Weitere Anlagen sollen folgen, so Herntier. Spremberg und seine Nachbarn positionieren sich damit als Wasserstoffregion. «Wir glauben, dass dies in Zukunft einen ähnlichen Effekt haben wird wie die Kohle in den vergangenen hundert Jahren», sagt sie.

  

 
Beispielbild zum Megatrend Technologiewandel: Eine Roboterhand versucht, eine Gänsefeder zu fangen, die langsam nach unten schwebt. © GettyImages

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