Gesprächsthema: Die Energiekrise im Fokus
Der Winter steht in Europa bevor und viele Regierungen haben die Bevölkerung zum Energiesparen aufgerufen, um es bei der Energiekrise nicht zum Äussersten kommen zu lassen. Während die Medien ein düsteres Bild zeichnen, lohnt sich eine differenzierte Betrachtung, da sich die Risiken je nach Land und Branche unterscheiden. Was bedeutet das also für Anleger? Dan Scott, Head of Multi Asset, und Peter Romanzina, Head of Equity Research, analysieren die Situation und die Massnahmen zur Vermeidung einer Energierationierung in diesem Winter.
Medien zeichnen ein düsteres Bild, doch differenzierte Betrachtung lohnt sich
Mit dem nahenden Winter wächst in Europa auch der Druck an der Energiefront. Die Experten von Vontobel haben die Situation analysiert und vier mögliche Szenarien in einer Erdgas- und Energiekrise aus Anlegersicht unter die Lupe genommen. Der folgende Artikel ist ein zusammengefasster Auszug aus einem Livestream vom 6. September mit Dan Scott, Head of Multi Asset bei Vontobel, und Peter Romanzina, Head of Equity Research bei Vontobel. Das komplette Video sehen Sie hier: https://www.vontobel.com/en-ch/connecting-insights/the-first-global-energy-crisis-how-real-is-it/
Wie kam es zur derzeitigen Situation?
Werfen wir einen Blick zurück und betrachten, wie es zu der derzeitigen Energiekrise in Europa kam. Vieles hat mit der Energiewende – der Umstellung von fossilen Brennstoffen auf emissionsarme Energiequellen – und damit zu tun, wie in der Eurozone Energie erzeugt wird.
In Europa stammen etwa 43 Prozent des Energiemix’ aus Atom- und Kohlekraft – Energieträgern, die Regierungen mit Blick auf die programmatischen Leitlinien des ESG-Ansatzes reduzieren möchten. Somit kommt Erdgas eine entscheidende Rolle zu, wenn Windkraft, Solarenergie und Wasserkraft nicht genügend Strom liefern. Vor dem Krieg in der Ukraine importierte Europa ca. 40 Prozent seines Erdgases aus Russland. Nach der Reduzierung der Liefermengen kämpft der Kontinent nun verzweifelt darum, seinen Energiebedarf zu decken. Erschwerend kommt hinzu, dass die französischen Kernkraftwerke derzeit unter anderem aufgrund von Wartungs- und Reparaturarbeiten ihre Kapazitäten reduzieren müssen. All dies hat zu einem Umfeld steigender Strompreise mit spürbaren Auswirkungen auf die Verbraucher geführt.
Wer ist betroffen?
Europa stellt in puncto Energieversorgung keinen homogenen Raum dar. Die einzelnen Länder sind beispielsweise in unterschiedlichem Masse von Erdgas und Atomkraft abhängig. Entsprechend werden sich auch die finanziellen Auswirkungen auf die Verbraucher je nach Land unterscheiden. In diesem Winter ist das Risiko von Stromausfällen in Deutschland beispielsweise höher als in Spanien, da das Land stärker von russischem Gas abhängig ist und daher alternative Energiequellen benötigt. Eines ist jedoch sicher: Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf den globalen Energiemarkt werden umfassend sein.
Kommen wir nun von den Gründen für die derzeitige Energiekrise in Europa zu einer Einschätzung der möglichen wirtschaftlichen Folgen. Eine drängende Frage lautet, ob die Energiekrise zu einer globalen Rezession führen kann. Global betrachtet sind die Auswirkungen der bevorstehenden Energiekrise von Region zu Region recht unterschiedlich. Man muss nur China betrachten, das weiter russisches Gas bezieht und Atomkraftwerke baut. Chinas Energieversorgung ist momentan recht sicher, obwohl das Land einen relativ grossen Teil seines Energiebedarfs durch Importe decken muss. Die USA hatten immer schon einen Vorteil durch billige Energie – auch aufgrund der Fracking-Technik, bei der durch Bohrungen Öl und Gas aus Gesteinsformationen gewonnen wird. Damit konnten die USA ihre Öl- und Gasproduktion steigern und so ihre Energiepreise senken. Derzeit scheint Europa in Sachen Energieversorgung im globalen Vergleich in einer ganz besonderen Lage zu sein.
Was bedeutet das? Das Umfeld für die Eurozone ist alles andere als einfach, da weitere Faktoren die Gefahr einer Rezession erhöhen könnten. Daher richten sich nun alle Blicke auf die wirtschaftliche Entwicklung in China, wo zum Beispiel mehrere Städte langsam aus Lockdowns kommen.
Warum ist Gas so entscheidend?
Anleger sollten sich mit Blick auf Europa bewusst machen, wie wichtig die Gaspreise sind. Im europäischen Energiegrosshandel wird ein Grenzpreissystem angewandt, bei dem alle Energieproduzenten die gleiche Vergütung für produzierte Energie erhalten. Der Preis richtet sich dabei nach den höchsten Produktionskosten, die im Allgemeinen bei Gas anfallen. Europa kann daher erst dann aufatmen, wenn die Gaspreise wesentlich zurückgehen.
Doch nicht nur auf Ebene der Regionen wird die drohende Energiekrise unterschiedliche Auswirkungen haben. Auch die einzelnen Branchen sehen sich unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber. Branchen, in denen Erdgas einen grösseren Anteil am Strommix ausmacht, werden stärker zu kämpfen haben. Sektoren mit relativ geringen Stromkosten werden dagegen besser durch die Krise kommen. Veranschaulichen lässt sich dies an einem Vergleich des Transport- und Arzneimittelsektors. Ersterer ist selbstredend stark von Öl und Gas abhängig und somit stärker betroffen als letzterer, der mit vergleichsweise wenig Energie auskommt. Natürlich ist die Pharmaindustrie trotzdem indirekt betroffen, da ihre fertigen Produkte transportiert werden müssen. Damit zeigt sich, dass die Energiekosten letztlich auf fast alle Branchen – wenn nicht sogar alle – durchschlagen.
Obwohl die Gasspeicher derzeit weitgehend gefüllt sind, besteht das Risiko, dass einige europäische Länder Beschränkungen einführen müssen, zumal noch nicht absehbar ist, wie kalt und wie lang der Winter werden wird. Doch selbst wenn die europäische Industrie diesen Winter ohne Produktionsdrosselung übersteht, wird dringend eine langfristige Strategie benötigt.
Kurz und bündig
Wie lautet unser Fazit? In jeder Krise steckt auch eine Chance. Und durch die Energiewende ergeben sich derzeit enorme Chancen. Es besteht Einigkeit darüber, dass Erdgas zwar den Übergang von schmutziger fossiler Energie zu sauberer erneuerbarer Energie ermöglichen soll, aber keine endgültige Lösung darstellt. Der Druck durch die momentane Situation könnte sich auf lange Sicht als hilfreich erweisen und die Energiewende beschleunigen.
* Gaspreise sind für den europäischen Strommarkt entscheidend
→ Da Gas auf dem europäischen Strommarkt als «Grenzanbieter» fungiert, orientiert sich die Strompreisentwicklung an den Gaspreisen
* Flüssiggas war bislang die Rettung für Europa
→ Neben einem geringeren Verbrauch wurde mehr als die Hälfte des ausgefallenen russischen Gases durch höhere Importe von Flüssiggas kompensiert
* Nachfrageeinbruch mit Blick auf die Zukunft erforderlich
→ Da aus Kapazitätsgründen nicht mehr Flüssiggas importiert werden kann, können weitere Lieferkürzungen Russlands nur durch Einsparungen beim Verbrauch ausgeglichen werden* * Viele negative Nachrichten bereits eingepreist
→ Die Finanzmärkte haben ein sehr negatives Szenario für die Gaspreise in der EU und für europäische Anlagewerte bereits eingepreist