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Insights, Technologie
14.05.2019 Lesezeit: 4 Minute(n)

Medizin von Morgen

Sie sind winzig und sie sind schlau. Intelligente Implantate, die zugleich diagnostizieren und therapieren, weisen uns den Weg in die digitale Zukunft der Gesundheit

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Biomedizin-Ingenieur Dmitry Amelin vom Fraunhofer Institut IMBT testet eine elektronische Prothesen-Steuerung ©Fraunhofer Gesellschaft

Die Hoffnung steckt in zweieinhalb Zentimetern. Das Implantat der kalifornischen Firma SetPoint Medical sieht aus wie eine etwas zu gross geratene Pille. Ihr Inneres birgt winzige Elektronik, die das Leben von Patienten mit rheumatoider Arthritis verbessern soll. Der digital gesteuerte Miniapparat wird in der Nähe des Vagusnerves implantiert und gibt in regelmässigen Abständen elektrische Impulse ab, um die überschiessende Immunreaktion, die mitverantwortlich für die rheumatoide Gelenkentzündung ist, auszubremsen. Erste klinische Versuche sind vielversprechend – und sie verweisen auf eine digitale Transformation, die in den nächsten Jahren das gesamte Gesundheitssystem erfassen wird.

«Die Digitalisierung der Medizin wird die Kunst des Heilens grundlegend verändern und bringt die Chance mit sich, die vorhandenen Ressourcen neu und im Sinne der Hauptperson, des Patienten, auszurichten»

Dr. med. Dominik Pförringer, Co-Vorsitzender der AG Digitalisierung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU)


Die Zukunft der Medizin wird 4D

Überall in der Welt tüfteln Ärzte, Naturwissenschaftler, Informatiker und Ingenieure derzeit an innovativen Technologien, die das Therapiespektrum massiv erweitern und bisweilen sogar revolutionieren werden. Auch die Finanzwirtschaft hat dieses Thema erkannt. Allein im Jahr 2017 flossen weltweit mehr als 9,5 Milliarden Euro Kapital in Start-ups aus dem Bereich Digital Health. «Die Entwicklung innovativer und gleichzeitig kostenintelligenter Verfahren in der Gesundheitsversorgung wird insbesondere durch Innovationen möglich, die durch die Annäherung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen entstehen», sagt Professor Gerd Geisslinger des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME. Als «4D»-Phänomen beschreibt er dabei die wachsende Kooperation zwischen den vier grossen Bereichen Diagnostics, Drugs (Medikamente) Data und Devices.

So kooperieren zwölf Fraunhofer-Institute im Zuge des Leitprojekts «Theranostische Implantate» bei der Entwicklung intelligenter Implantate – einer smarten Hüftgelenksprothese, einer Handprothese und eines Implantats zur Kontrolle des Blutkreislaufs.

Therapie plus Diagnostik wird «Theranostik»

Theranostik leitet sich aus den Begriffen Therapie und Diagnostik ab. Theranostische Implantate vereinen beide Disziplinen: Sie erfassen Vitalparameter, etwa Blutdruck oder erhöhten Blutzucker, und leiten auf dieser Grundlage therapeutische Massnahmen ein. So überwacht etwa eine smarte Hüftgelenksprothese über Sensoren, wie gut das Ersatzgelenk einwächst. Sitzt die Prothese zu locker, treten die in der Hüftprothese integrierten sogenannten Aktuatoren in Aktion: Ein winziger integrierter Heizer erwärmt eine spezielle auf der Prothese angebrachte Legierung, so dass sich diese minimal ausdehnt. Der Sitz der Prothese im Oberschenkelknochen wird so passgenau nachjustiert – und erspart im Zweifel eine erneute Operation. Bei Bluthochdruck- und Schlaganfallpatienten sollen die Sensor-Implantate sogar die interne Druckmessung in den Herzgefässen ermöglichen – was bislang nur mittels einer aufwendigen Katheter-Untersuchung unter ärztlicher Aufsicht möglich ist. Das Implantat misst den Druck der Herzgefässe und übermittelt die Daten an eine Empfangseinheit ausserhalb des Körpers. Mit den gewonnenen Daten könnten Probleme früher diagnostiziert und Krankenhausaufenthalte reduziert werden.

Im Labor des Fraunhofer IBMT sitzt Biomedizin-Ingenieur Dmitry Amelin auf einem Stuhl und klebt sich acht Elektroden auf den Unterarm, die mit einer kleinen Box mit Bildschirm vor ihm auf dem Tisch verbunden sind. Amelin führt Daumen und Zeigefinger zusammen und beobachtet die Ausschläge auf dem Bildschirm. «Wir arbeiten an der Steuerung für eine Handprothese», erklärt der junge Wissenschaftler. «Das kleine Kästchen enthält die gesamte Steuerelektronik und soll dem Patienten später in den Unterarm implantiert werden».

Kommunikation zwischen Mensch und Prothese

Die myo-elektrische Handprothesensteuerung ermöglicht eine Kommunikation zwischen Mensch und Prothese. Sie antizipiert, wie der Mensch, der sie trägt, sich in einer bestimmten Situation bewegen will. Die Software des Implantats erkennt das Bewegungsmuster und sendet entsprechende Steuerbefehle an die Prothese, um die Bewegung auszuführen. Damit nicht genug. «Das Bahnbrechende an unserem Design ist, dass die Prothese dem Träger auch ein sensorisches Feedback gibt», erklärt Prof. Klaus-Peter Hoffmann vom IBMT. Dieses Feedback leisten Sensoren in der Prothese, die über die Implantat-Elektronik mit dem menschlichen Nervensystem verbunden sind, z.B. Drucksensoren in den künstlichen Fingern. Haarfeine doppelseitige Elektroden, sogenannte Filament-Elektroden, wurden eigens dafür von den Fraunhofer-Forschern entwickelt. Diese lassen sich direkt am Nerv fixieren und den Patienten in Echtzeit spüren, wie fest er zum Beispiel mittels Prothese zugreift.

Auch Herzschrittmacher können gehackt werden

Alles science fiction? Nicht wirklich. In spätestens zehn bis 15 Jahren werden theranostische Implantate in der medizinischen Praxis angekommen sein, prognostizieren die Forscher. Aufgrund ihrer Komplexität gehören theranostische Implantate zu den besonders anspruchsvollen medizintechnischen Systemen, die bereits in der Entwicklungsphase ausführlich im Labor erprobt werden müssen. Noch ist das Handprothesen-Implantat, das der Biomediziner Dmitry Amelin testet, über Kabel mit den Elektroden verbunden. In der nächsten Generation sollen Elektrode und Implantat verschmelzen. Die Mikro-Implantate sollen dann drahtlos per Ultraschall kommunizieren. Warum nicht per Funksignal? «Weil das sicherer ist», sagt Forscher Hoffmann. «Wir wissen von Fällen aus den USA, wo Herzschrittmacher gehackt wurden».

Implantate mit Akkus für zehn Jahre

Auch die neue Generation der smarten Implantate gegen rheumatoide Arthritis kommt inzwischen ohne Kabel aus. Die Implantate verfügen über schnelle Mikrochip-Prozessoren, ihre Miniatur-Lithium-Ionen-Batterien lassen sich drahtlos aufladen. Der Hersteller verspricht eine Akkulaufzeit von mehr als einem Jahrzehnt. «In ihrem und meinem Leben werden wir Millionen von Menschen mit implementierten Geräten sehen», prognostiziert Kevin Tracey, Präsident des Feinstein Institute for Medical Research und Mitbegründer von SetPoint Medical. Er ist überzeugt, dass sich smarte Implantate wie diese, die mit elektrischen Impulsen arbeiten, langfristig auch bei Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Krebs zum Einsatz kommen können. «Das hier», prophezeit Tracey, «ist nur die Spitze des Eisbergs».

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