Reisen bringt sie nach Hause: Komponisten auf der Suche nach Identität
Auszug aus dem Text «Die Mischung macht es: Musik und Identität» von Michael Haefliger
Wer seine eigene Identität erkunden will, muss erst die der anderen kennenlernen. Dieser Gedanke ist keine Erkenntnis der heutigen globalisierten Welt. Von Mozart bis Mahler haben berühmte Komponisten zu ihrer Identität gefunden, weil sie sich im Spiegel des anderen, Fremden von einer neuen Seite entdeckten.
Michael Haefliger sorgt beim Lucerne Festival seit 18 Jahren für volle Säle. © Foto: Marco Borggreve
Viele Künstler und Musiker zieht es in dieselbe Richtung: Sie suchen neue Impulse, um sinnlich zu erfahren, was sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Dafür sind sie bereit, Grenzen zu überwinden. Geografische und kulturelle. Wer ihren Spuren folgt, entdeckt eine überraschende Parallele: Oft ist im Fremden paradoxerweise ein unvoreingenommener Blick auf die eigenen Wurzeln zu finden.
«Ihre Lieder, meine Lieder» (Sergej Prokofjew)
Im Mai 1918 hatte Sergej Prokofjew seine russische Heimat verlassen. Angewidert von der Gewalt und dem wirtschaftlichen Niedergang nach der Oktoberrevolution brach er in die USA auf. Doch im «Goldenen Westen» und später in Europa fand er vor allem eines: seine Sehnsucht, wieder heimzukehren. Prokofjew fühlte sich isoliert, missverstanden, leergeschrieben. Er wusste: «Ich muss zurück. Ich muss wieder wirkliche Winter sehen […], die russische Sprache in meinem Ohr widerhallen hören, ich muss mit den Leuten reden, die von meinem eigenen Fleisch und Blut sind, damit sie mir etwas geben, was mir hier fehlt: ihre Lieder, meine Lieder.»
«Ohne Reisen ist man wohl ein armseliges Geschöpf.» (Wolfgang Amadeus Mozart)
So wie Prokofjew erging es vielen Musikern. Fréderic Chopin schrieb im Pariser Exil seine Mazurken und Polonaisen und verarbeitete in ihnen sein Heimweh nach dem fernen Polen. Igor Strawinsky blieb von früher Jugend über Paris bis Hollywood immer dem russisch-orthodoxen Glauben treu und entdeckte die Musik als Ausdruck seiner heimatlich-religiösen Gefühle.
Die klassische Musik ist Grenzüberschreitung in Reinkultur
Bis heute lebt die Musikgeschichte vom Wechselspiel des Eigenen mit dem Fremden:
- Johann Sebastian Bach integrierte spanische Sarabanden, schottische Jigs und französische Gavotten in seine Suiten.
- Maurice Ravel griff den Jazz auf,
- Ludwig van Beethoven die französische Revolutionsmusik.
- Claude Debussy liess sich von der Gamelan-Musik auf Java inspirieren.
- Béla Bartók fusionierte die traditionelle Bauernmusik der Balkanländer mit den grossen klassischen Formen wie der Fuge oder dem Sonatensatz.
- Und Gustav Mahler gewährt in seinen Sinfonien sogar Naturlauten und Kuhglocken ihren Gala-Auftritt.
Diese Beispiele zeigen: Es ist gerade die Mischung, die Kunst so unverwechselbar und zukunftsträchtig werden lässt. Im Austausch mit neuen, auch fremden Einflüssen finden wir fruchtbare Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Doch dafür ist zunächst eines erforderlich: die Bereitschaft, Identität als wandelbare Grösse zu betrachten und zu formen. Gemeinsam, kulturell und künstlerisch. In dieser Reihenfolge.
Über Michael Haefliger
Michael Haefliger ist seit 1999 Intendant des Lucerne Festivals. Unter seiner Leitung erlangte das Festival grosse Bedeutung für die zeitgenössische Musik. Haefliger ist Träger zahlreicher Kulturpreise und wurde vom World Economic Forum Davos zum «Global Leader of Tomorrow» ernannt.
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