Megatrend «Multipolare Welt»
Die multipolare Weltordnung offenbart neue Konkurrenten – und neue Konsumenten. Schärfen Sie den Blick aufs «grosse Ganze» und integrieren Sie diesen Megatrend systematisch ins Portfolio.
Zankapfel der Geopolitik: Blick auf eine der kargen Inseln, die in artkischen Gewässern sichtbar werden, seit das Packeis schmilzt. © Wired
Im August 2019 stellten Satelliten, die den Polarkreis absuchten, eine bemerkenswerte Veränderung fest: Das Eis der Region ging so weit zurück, dass jetzt Inseln sichtbar wurden, die zuvor unter Gletschern begraben lagen. Die Klimakrise hat also neues Land erschlossen, das für politische und wirtschaftliche Zwecke genutzt werden könnte.
Von
Will Bedingfield,
Redakteur von WIRED.
Seine Recherche veröffentlichen wir hier als Teil unserer Publishing Partnership mit Wired UK.
Ende 2019 hat eine russische Marineexpedition fünf neuen Inseln entdeckt, die sich in Novaya Zemlya und im Franz-Josef-Land-Archipel befinden. Dies stellt für Russland ein weiterer Erfolg dar, zumal sich das Land als Vorreiter bei der Nutzung der sich verändernden arktischen Landschaft sieht. Nach Angaben der Russian Geographical Society wurden zwischen 2015 und 2018 mehr als 30 neue Inseln, Kaps und Buchten in der Region entdeckt. Die neueste Entdeckung umfasst eine Insel mit einer Grösse von 54.500 Quadratmetern – eine Fläche, die mehr als sieben Fussballfeldern entspricht. Die Arktis ist eine Region von enormer globaler politischer und wirtschaftlicher Bedeutung – ihr Ozean verbindet Asien, Europa und Nordamerika. Rund neunzig Prozent des internationalen Handels finden auf diesen drei Kontinenten statt. In der Region gibt es riesige Vorräte an ungenutzten Ressourcen, darunter einen grossen Teil des weltweit vorhandenen Erdöls.
Aber die Region wird durch den Klimawandel dramatisch verändert. So erreichten die Temperaturen in Nordgrönland im Juni ein Rekordhoch von 23,2°C. Das sind 0,1°C mehr als im Vorjahr. Die Vereisung lag im Juli mit 19,8 Prozent unter dem Durchschnitt, ein weiterer Rekord. Und die UNO berichtete im September, dass der Verlust an Gletschern zwischen 2015 und 2019 der grösste in ihrer Geschichte war. Nur aufgrund dieser enormen ökologischen Veränderungen sind Landnahmen wie die von Russland möglich.
Aber dieser geografische Wandel hat auch globale Konsequenzen. Derzeit ist die arktische Schifffahrtssaison kurz, meist sind die Routen nur im September und Oktober befahrbar. Einem Bericht der britischen Regierung zufolge könnte der Klimawandel die Länge der Saison verdreifachen und je nach Modell die Arktis bis zum Sommer 2035 eisfrei werden lassen, so dass Schiffe zu jeder Jahreszeit den Nordpol überqueren könnten. Für Frachter aus Grossbritannien würde dies bedeuten, dass sie sich auf Routen nach Ostasien zehn bis zwölf Tage sparen, wenn sie im Spätsommer die Abkürzung über den Nordpol befahren.
Russland nimmt dabei eine Führungsposition ein. Das Land hat den Güterverkehr über die Nordseeroute erhöht und Staatspräsident Putin kündigte in einer Rede 2018 an, dass er bis 2024 insgesamt 80 Millionen Tonnen Waren über die Nordsee befördern will.
Im August 2018 schickte Mærsk, der weltweit grösste Frachtschiff-Betreiber, das erste Containerschiff über die russische Nordseeroute von Wladiwostok nach St. Petersburg. Es fuhr durch die Beringstrasse über den Nordpol und nicht über die bestehende Route rund um China und durch den Suezkanal. Dies bedeutete eine Verkürzung der normalen Entfernung um 40 Prozent.
Russland ist im Besitz der grössten und modernsten Flotte von Eisbrechern, die für eine sichere Überquerung der Gewässer erforderlich sind. Für das Land stellt das einen grossen wirtschaftlichen Vorteil dar. «Russland sieht die Möglichkeit, Gebühren für die Nutzung dieser Eisbrecherflotte zu erheben», sagt Sidharth Kaushal, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Royal United Services Institute (RUSI). «Einer der ehemaligen Minister, Dmitry Rogozin, verglich es mit den Karawanenrouten früherer Zeiten, in denen das Imperium, das die Karawanenrouten kontrollierte, eine Gebühr für die Überquerung erheben konnte. Er machte geltend, dass die russische Flotte und insbesondere deren Eisbrecher diese kommerzielle Rolle übernehmen könnten.»
Aber Russland hat einen grossen Konkurrenten: China. 2013 wurde China Beobachter im Arktischen Rat, einem zwischenstaatlichen Forum, das sich mit Fragen der arktischen Regierungen und der Ureinwohner der Region befasst. Derzeitige Mitglieder sind Kanada, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Russland und die Vereinigten Staaten. Im Jahr 2018 erklärte sich China zur «arktisnahen Nation» und veröffentlichte ein arktisches Weissbuch, in dem das Potenzial einer polaren Seidenstrasse untersucht wurde. «Dieser Transportweg würde die Arktis nutzen, die Transitzeiten verkürzen und die Kosten für den Transport von Waren und Dienstleistungen von Ost nach West in Eurasien senken», sagt Kaushal.
Die beiden Supermächte müssen nun zusammenarbeiten oder sie geraten aneinander.
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«Der Hintergrund der russischen Expansion in die Arktis ist das Russland-China-Verhältnis», sagt Cleo Paskal, Associate Fellow in der Abteilung Energie, Umwelt und Ressourcen von Chatham House. «Dadurch rücken Russland und China viel enger zusammen. Neuerdings bauen auch die Chinesen Eisbrecher und unternehmen gemeinsame Luftpatrouillen über dem Pazifik.»
«Die Völkerverständigung könnte auf zwei Arten geschehen», erklärt Kaushal. Man könnte voneinander profitieren, in dem China die neuen Strecken nutzt, die von russischen Eisbrechern geräumt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland für diesen Dienst hohe Gebühren erhebt und die Nordseeroute als Cash Cow nutzt, könnte jedoch auch zu Spannungen zwischen den Ländern führen. «Die andere Frage ist natürlich, welche Rolle China in der Arktis spielen möchte», sagt Kaushal. «Derzeit haben nur die Staaten des Arktischen Rates das Sagen, wenn es um die Bewirtschaftung der Arktis geht. Nun hat aber China erklärt, dass es ebenfalls ein arktischer Staat sei. Dies steht im krassen Widerspruch zu Russlands Definition, und insbesondere zu seiner eigenen besonderen Rolle in der Arktis.»
Die veränderte Geografie stellt eine wichtige strategische Bedeutung für Russland dar, das eine Reihe von militärischen und wissenschaftlichen Stützpunkten in der Region eröffnet hat. «Russland hat damit direkten Zugang zum Pazifik», sagt Paskal. «Jetzt kann seine Flotte über die Beringstrasse bis in den Pazifik vordringen. Der Indopazifik selbst entwickelt sich zu einer schnell wachsenden Zone für neue Ressourcen und erlangt damit eine enorme strategische Bedeutung.» Die Entwicklung könnte Russland aber auch schwächen. «Traditionell verschanzt sich die Atomflotte in arktischen Bastionen rund um Orte wie Murmansk, die für die meisten Schiffe kaum zugänglich sind und einen ziemlich sicheren Parkplatz für deren Atom-U-Boote darstellen», sagt Kaushal.
«Wenn das arktische Eis schmilzt, wird auch Russlands Schutzschild dünner.»
Der Klimawandel eröffnet neue Geschäftsfelder. Einem Bericht der britischen Regierung zufolge konzentriert sich das Wirtschaftswachstum in der Arktis auf vier Schlüsselsektoren: Bodenschätze, Fischerei, Logistik und Tourismus. Für all das werden Schiffe benötigt und somit könnte die Arktis in den nächsten zehn Jahren Investitionen in Höhe von 100 Mrd. USD (76 Mrd. GBP) oder mehr generieren. Ausserdem wird das Abschmelzen der Polkappen neue Fischereigründe erschliessen.
Alle diese Faktoren eröffnen ein Rennen um die Ressourcen, insbesondere für Energiequellen wie Öl und Gas. «Ein sehr bedeutender Teil der russischen Energiereserve und der potenziellen Explorationsmöglichkeiten liegt am arktischen Meeresboden», sagt er. «Die grossen staatlichen russischen Unternehmen wie Rosneft und Gazprom wollen die Gewinnung und den Verkauf dieser Vermögenswerte entweder monopolistisch oder nahezu monopolistisch kontrollieren.»
Noch sind die neuen Schifffahrtsrouten kaum mehr als ein kühner Plan. «Die arktischen Gewässer sind sehr schwierig zu befahren und die Versicherungskosten sind sehr hoch», sagt Stephanie Pezard, Senior Politologin bei der RAND Corporation, einer amerikanischen Denkfabrik. «Es ist also noch nicht der grosse Boom, der hier erzeugt wird. Wenn man sich die tatsächliche Anzahl der Schiffe auf dieser Route ansieht, ist sie noch sehr klein.»
Dazu kommt, dass es viele Menschen gibt, die bereits in der Region leben. «Die Arktis ist nicht leer. Die arktischen Völker wissen geopolitisch sehr genau, was vor sich geht und wie sich Entscheidungen in Moskau, Washington oder Peking auf ihr Leben auswirken», sagt Paskal. «Und je nach Land werden sie eine grössere oder kleinere Rolle dabei spielen, um mitzubestimmen, was möglich ist was nicht.»