Über den Autor
Mondher Bettaieb-Loriot
Head of Corporate Bonds, Senior Portfolio Manager
Weitere ArtikelDarum dürfte die «vierte industrielle Revolution» die Inflation begrenzen
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Mondher Bettaieb-Loriot
Head of Corporate Bonds, Senior Portfolio Manager
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Jedes Jahr im August hält die US-Notenbank Fed ihr jährliches Sommersymposium in Jackson Hole im US-Bundesstaat Wyoming ab. Dieser Anlass markiert stets einen wichtigen Datenpunkt für die Finanzmärkte, da er wertvolle Hinweise auf mögliche geldpolitische Massnahmen der Fed in den kommenden zwölf Monaten gibt. Auch dieses Jahr war keine Ausnahme. Anleger hatten allen Grund, aufmerksam auf die Signale der Fed zu achten. Doch erstaunlicherweise sind sie meist nicht aufmerksam, was ein gewisses Mass an Volatilität, aber auch Chancen für aktive Anleger nach sich zieht.
In diesem Jahr brachte Jackson Hole viel Bekanntes: Die US-Notenbank wird Zinserhöhungen nicht überstürzen, zumal die Inflation kein echter Grund zur Sorge ist. Dies liegt unter anderem an der «vierten industriellen Revolution», die wir durchlaufen – angeführt von Fortschritten bei der digitalen Technologie wie dem Mobilfunkstandard der fünften Generation (5G).
Der technologische Fortschritt im Zeitalter der Digitalisierung wird häufig als «vierte industrielle Revolution» bezeichnet. Die vier industriellen Revolutionen lassen sich grob wie folgt unterteilen:
Erwähnenswert ist, dass industrielle Fortschrittsschübe und niedrige Zinsen Hand in Hand gehen. Die erste und zweite industrielle Revolution fielen in das viktorianische Zeitalter, in dem Grossbritannien die vorherrschende globale Supermacht war. Dieser Zeitraum war geprägt von erheblichen technischen Umwälzungen, einem Ausbleiben grosser militärischer Konflikte und niedrigen Zinsen. Ein jahrzehntelanges Niedrigzinsumfeld ist also weder neu noch einzigartig. Damals wie heute haben umfassende technische Fortschritte tendenziell einen deflationären Effekt auf die Wirtschaft – und genau das können wir im Moment beobachten.
Vor diesem Hintergrund ist die Umsicht der Fed und die Beteuerung ihres Vorsitzenden Jerome Powell in Jackson Hole, nichts überstürzen zu wollen, durchaus nachvollziehbar. Die Fed hat in den vergangenen zehn Jahren bis zum Ausbruch der Pandemie eine verhaltene Preisentwicklung infolge starker deflationärer Kräfte wie der Digitalisierung verzeichnet – und diese Kräfte wirken weiterhin. Der Beginn der Digitalisierung lässt sich mit der Markteinführung des iPhone (der Hardware) ansetzen, nun folgt der 5G-Standard. Zu Beginn des letzten Jahres waren wir der Ansicht, dass dieser technische Standard die Industrie verändern würde, da er eine stärkere Vernetzung von Geräten und Maschinen ermöglicht. Doch dann kam die Pandemie – und was wir seit ihrem Beginn erlebten, war eine andere Art von Konnektivität, nicht von Gerät zu Maschine, sondern von Gerät zu Gerät. Es war in der Tat eine harte Bewährungsprobe, als wir unversehens von Freunden, Familie und Kollegen abgeschnitten waren, zu Hause bleiben und von dort aus arbeiten sollten.
Doch wir Menschen sind belastbar und kommen schnell wieder auf die Beine – und so haben wir auch diese neuen Herausforderungen gemeistert. Die ungewohnte Isolation war ein Anreiz, neue Kommunikationswege zu suchen. Wir kompensierten den fehlenden persönlichen Kontakt, indem wir uns über Apps und Plattformen wie Zoom, Teams, WebEx oder Skype vernetzten. Sagten wir früher «Ich muss morgen unbedingt nach Singapur fliegen», denken wir heute eher: «Eine Videokonferenz reicht eigentlich aus».
Die Zunahme der Konnektivität, die wir während des Lockdowns erlebten, ermöglichte vielen Menschen die Arbeit im Homeoffice. Leider waren jedoch auch viele Arbeitskräfte in Dienstleistungssektoren wie dem Gastgewerbe ohne Beschäftigung zu Hause isoliert.
Nach der globalen Finanzkrise 2008 war die Zahl der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor rückläufig. Dieser Trend hat sich nie nachhaltig umgekehrt und erneut das Vorkrisenniveau erreicht. Und auch heute, angesichts der Coronakrise und der vermehrten Nutzung von Apps anstelle persönlicher Dienstleistungen, erwarten wir keine wesentliche Erholung im Dienstleistungssektor. Ein weiterhin schwacher Arbeitsmarkt und der Konsumrückgang führen zu einem anhaltenden Mangel an Inflationstreibern, sodass die Zinssätze länger niedrig bleiben müssen (möglicherweise sogar unbegrenzt), um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Auf dem letztjährigen Treffen in Jackson Hole führte die Fed ihr Rahmenwerk «Average Inflation over Time» (AIT) ein, um flexibler auf die Inflationsentwicklung reagieren zu können. An diesem Rahmen hält die Notenbank entschlossen fest. Im Laufe der vergangenen zwölf Monaten hat Powell wiederholt bekräftigt, dass die Fed die Zinsen nicht vorschnell erhöhen werde, selbst wenn es Anzeichen für eine Überhitzung des Arbeitsmarktes oder eine beschleunigte Teuerung geben sollte. Eine Kernkomponente des AIT-Rahmens ist die Konzentration der Fed auf Ist-Werte anstelle von Prognosen. Damit zieht die Fed Konsequenzen aus Inflationsdaten, die ihr eigenes Inflationsziel in den Jahren 2012 bis 2020 beständig verfehlten oder unterschritten. Vor der Pandemie lag eine Dekade der Desinflation und vor diesem Hintergrund möchte die Fed bei Zinsschritten sehr bedacht vorgehen.
Die zweite Kernkomponente der AIT-Strategie ergibt sich aus ihrem Namen: «Average Inflation over Time», also Durchschnittsinflation im Zeitverlauf. Für die Fed ist allein eine verfestigte und anhaltende Inflation relevant. Aus diesem Grund habe ich die Vermutung, dass man bei der Fed nun Inflationszahlen über einen längeren Zeitraum von mindestens drei Jahren berücksichtigt und nicht nur die jeweils jüngsten Zahlen. Eine Betrachtung der rollierenden dreijährigen persönlichen Konsumausgaben etwa wäre angemessener. Diese Zahl dürfte 2022 wahrscheinlich unterhalb der Zielmarke von zwei Prozent bleiben, was die abwartende Haltung der Fed erklärt. Mit ihrem neuen Inflationsrahmen legt die Fed die Messlatte für Zinserhöhungen extrem hoch. Dass in Jackson Hole keine negativen Überraschungen im Hinblick auf die Inflation zu vermelden waren, bekräftigt dies.
Die Fed hat sehr deutlich ihre Haltung bekräftigt, in diesem Jahr angesichts des neuen AIT-Rahmens eine abwartende Haltung einzunehmen und keine präventiven Schritte auf der Grundlage von Prognosedaten einzuleiten, sondern auf Ist-Werte zu vertrauen. Unter Umständen könnte sie diesen Rahmen verstärken, indem sie Massnahmen bezüglich des weiterhin unbeständigen Arbeitsmarkts in Verbindung mit einer niedrigen Durchschnittsinflation ergreift. Das Thema des diesjährigen Symposiums war «Wirtschaftspolitik in einer unsteten Wirtschaft». Es konzentrierte sich auf die teilweise bedingt durch den technologischen Fortschritt und die Digitalisierung fluktuierende Beschäftigungslage. Somit wird die Fed eine Reduzierung ihrer Anleihenkäufe wohl erst in Erwägung ziehen, wenn der Arbeitsmarkt integrative Zuwächse in der Breite verzeichnet.
Direktoriumsmitglied Lael Brainard wurde sehr deutlich, was die Voraussetzungen für ein mögliches «Tapering» betrifft, also eine Drosselung der ausserordentlichen Unterstützungsmassnahmen der Fed. Als Voraussetzung nannte sie «Anzeichen dafür, dass die Fortschritte am Arbeitsmarkt breit und integrativ sind, anstelle der reinen Fokussierung auf die aggregierte Gesamtbeschäftigungsquote». Auch in ihren jüngsten Bemerkungen am 30. Juli in Aspen, Colorado wies sie darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit weiterhin hoch sei und sich insbesondere unter Afro- und Hispanoamerikanern sowie im Niedriglohn-Dienstleistungssektor disproportional entwickelte. Ihrer Dienststelle zufolge klaffte im Juni noch eine grosse Lücke bei geringqualifizierten Arbeitskräften im Haupterwerbsalter. Konkret fehlen im Vergleich zur Entwicklung vor der Pandemie (ein spezieller Indikator der Fed) 9.1 Millionen Arbeitsplätze.
Vor diesem Hintergrund wurde beim diesjährigen Symposium zwar allgemein über eine Drosselung der Anleihenkäufe gesprochen, doch bislang wurden keine konkreten Schritte in diese Richtung eingeleitet. Angesichts der gravierenden anhaltenden Flaute am Arbeitsmarkt und der Pandemielage wäre ein geldpolitischer Schritt zum falschen Zeitpunkt Jerome Powell zufolge «ein Fehler, der sich als besonders schwerwiegend erweisen dürfte». Es gibt daher keine Alternative zu einer sorgfältigen Konzentration auf eingehende Daten und mögliche neue Risiken. Das FOMC als Zinssetzungsgremium der Fed dürfte auf seinen nächsten Sitzungen folglich keine geldpolitische Straffung einleiten – es sei denn, der Arbeitsmarkt würde innerhalb dieses kurzen Zeitraums integrative Zuwächse in der Breite verzeichnen. «Obwohl sich die Beschäftigungslage in den vergangenen Monaten verbessert hat», so der Fed-Chef, gäbe es immer noch viel Boden gutzumachen, bis Vollbeschäftigung erreicht sei. Die Arbeitslosenquote als gängige Kennzahl sei mit 5.4 % «immer noch zu hoch und die offizielle Zahl gibt die Schwäche des Arbeitsmarktes unzureichend wieder».
Ein weiterer Faktor, der die geldpolitische Straffung bis ins Jahr 2022 verzögern könnte, ist das mit der Delta-Variante des Coronavirus verbundene Abwärtsrisiko. In vielen Bereichen sind die Impfquoten nicht so hoch wie erhofft und könnten die Erholung in den Dienstleistungssektoren dämpfen, die den Arbeitsplatzmangel zu drei Vierteln ausmachen, so Lael Brainard. Somit mangelt es noch an den erheblichen Fortschritten am Arbeitsmarkt, die eine Voraussetzung für die allmähliche Drosselung der Anleihenkäufe sind.
Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass die allgemeinen Arbeitsmarktbedingungen sich während der globalen Finanzkrise von 2008 nur sehr schleppend erholten und die Fed auch damals eine lockere Geldpolitik und viel Geduld an den Tag legte. Dies könnte sich wiederholen, besonders angesichts grösserer Fortschritte im Zuge der Digitalisierung. Mit Blick auf Europa dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) den Schritten der Fed folgen, da eine Polarisierung am Arbeitsmarkt auch für EZB-Chefin Christine Lagarde eine zentrale Sorge ist.
Allgemein erweist sich die Abkehr von der längerfristigen Niedrigzinspolitik vor dem Hintergrund einer unsteten und zunehmend digitalen Wirtschaft als schwieriges Unterfangen. Die Zentralbanken stehen vor der grossen Herausforderung, die Weltwirtschaft am Laufen zu halten. Gleichzeitig dürfte die Inflation durch die deflationäre Tendenz der Digitalisierung und des 5G-Standards begrenzt bleiben. Wir müssen dabei in Epochen denken: Die Digitalisierung stellt die vierte Phase der industriellen Revolution dar und ein solcher Prozess nimmt in der Regel mehrere Jahrzehnte in Anspruch. Vor diesem Hintergrund einer längerfristigen Niedrigzinspolitik stufen wir das Risiko und die Attraktivität von Unternehmensanleihen aus Industrieländern positiv ein und sind der Ansicht, dass aktive Anleger weiterhin gut aufgestellt sind, um von selektiven Anlagen zu profitieren. Und das wird auch noch viele Jahre lang so bleiben.
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