Das Ich ist unrettbar: Datenspuren und digitale Identität
Ein Gastbeitrag von Andrew Keen, Kritiker der digitalen Revolution
Das Internet ist allgegenwärtig. Es reicht bis in unsere privatesten Winkel. Und gewinnt dort eine Bedeutung, die unsere Identität mitbestimmt. Nicht nur im Positiven.
Andrew Keen begleitet die digitalen Revolution seit Jahren mit kritischen Essays und Büchern, u.a. dem Bestseller «The Internet Is Not The Answer». © Photo: Jens Panduro
Im Juli 1993 veröffentlicht das Magazin «New Yorker» einen Cartoon, der zwei Hunde und einen Computer zeigt. Der erste Hund sitzt auf einem Sessel vor dem Bildschirm und sagt zum zweiten Hund am Boden: «Im Internet weiss niemand, dass du ein Hund bist.»
Die Karikatur geht davon aus, dass wir uns zwar das Internet anschauen können, das Internet aber uns nicht sieht. Ähnlich, wie wir es vom Fernsehen kennen. Unsere Identität wird allein von der physischen Welt bestimmt, so war es damals Common Sense. Wir haben die Macht darüber, was man im Internet von uns denkt. Heute, 25 Jahre später, führt uns der Cartoon vor Augen, wie sich unser Umgang mit dem Netz schleichend verändert hat: Wir lesen das Internet – aber das Internet liest mit. Und dabei schreibt es sich seine eigene Geschichte von uns.
Digitale Daten sind die neue Realität
Wir leben im Zeitalter von Big Data. Jede Minute rund um die Uhr teilen wir auf Facebook-Messenger 216’302 Bilder, liken wir 2’430’555 Instagram-Posts und verbreiten wir 6’678 mit Emoji versehene Tweets. Überall hinterlassen wir Spuren. Gewollt und ungewollt, wie etwa bei Online-Transaktionen oder mit Mobiltelefon- und GPS-Signalen. Alle diese persönlichen Daten zeichnen unser Leben in intimen Details auf. Sowohl für uns selbst als auch für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – mehr über uns wissen wollen.
Der Effekt: Unsere digitale Identität verschmilzt immer mehr mit unserer physischen Identität oder löst sie sogar ab. Unsere Datenspuren werden zur neuen sozialen Realität. Wenn Unternehmen neue Mitarbeitende suchen, durchkämmen sie die sozialen Medien, um ihre Kandidaten zu überprüfen. Universitäten nutzen Facebook um sicherzustellen, dass die Studierenden keine belastenden Fotos hochgeladen haben. Wenn Männer oder Frauen auf Dating-Plattformen unterwegs sind, vergleichen sie erst über Google, ob ihr gegenüber dem entspricht, was es vorgibt. Das alles hat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen.
Facebook kennt uns besser als wir uns selbst
Im Jahr 2010 bat ein österreichischer Student, der eine Diplomarbeit schrieb, Facebook um die Übermittlung aller Daten, die seinem Konto angehängt waren. Er erhielt ein 1'200 Seiten umfassendes PDF. Darin standen alle IP-Adressen, die er für Log-ins verwendet hatte, sowie alle Aufzeichnungen der ausgetauschten Nachrichten einschliesslich aller Anstupser («pokes»). Sogar von ihm gelöschte Informationen wurden wieder aufgeführt. Facebook kannte diesen Studenten wohl besser als er sich selbst.
Drei Hauptprobleme der digitalisierten Identität
1. Problem: Das Internet hat nicht gelernt zu vergessen. Mit der Digitalisierung verloren wir unsere kindliche Unschuld. In der physischen Welt bleiben Jugendsünden normalerweise nicht ewig erhalten. Ganz im Gegensatz zum Internet, das jeden Ausrutscher speichert – und auch wieder preisgibt. Daher müssen Technologieexperten und -unternehmen Wege finden, digitale Daten zu erschaffen, die über die Zeit wieder verschwinden.
2. Problem: «Big Data» ist «Big Money». Die Big-Data-Unternehmen im Silicon Valley entwickeln Geschäftsmodelle, die Profit grossteils aus Werbeeinnahmen ihrer Suchmaschinen oder sozialen Netzwerke generieren. Je mehr diese Unternehmen über uns wissen, desto wertvoller sind wir für ihre Werbekunden. Die digitale Wirtschaft ist deshalb per Definition eine Überwachungswirtschaft.
3. Problem: Risiko einer digitalen Diktatur. Die baltische Republik Estland lancierte unlängst ein Pionierprojekt für die E-Bürgerschaft (e-citizenship). Von den Steuerzahlungen über Eigentumsurkunden bis zum Strafregister wird alles in digitaler Form aufbereitet. Die Regierung in Estland verdient das Vertrauen ihrer Bürger, weil sie ihre Daten schützt: Sie hat ihre E-Bürgerschaft mit Transparenzmechanismen ausgestattet, sodass ein Bürger benachrichtigt wird, wenn eine Regierungsbehörde auf seine Daten zugreift. In nichtdemokratischen Staaten wie China hingegen schaffen die digitalen Aufzeichnungen eine Architektur mit einem Orwell'schen Ausmass an digitaler Diktatur. Bürger werden nach ihrer politischen Verlässlichkeit bewertet.
Das Licht am Ende des Datentunnels
Ob man es mag oder nicht: Die digitale Identität nimmt überhand. Wenn wir unsere Privacy zurückgewinnen wollen, brauchen wir mehr verantwortungsvolle Regulierungen, eine bessere Erziehung und Innovationen, welche die dunkle Seite der digitalen Revolution aufhellen.
Lesen Sie den ausführlichen Artikel von Andrew Keen im «Impact 2017/18» zum Thema «Identität»
Über Andrew Keen
Andrew Keen ist einer der bekanntesten Kommentatoren der digitalen Revolution. Er ist Autor von technologiekritischen Büchern wie «The Internet Is Not The Answer» und «Cult of the Amateur». Sein neuestes Buch erscheint 2018 unter dem Titel «How to fix the future».