Lord Patten of Barnes im Interview: Grossbritannien hat gewählt

Insights, Geopolitik
13.12.2019 Lesezeit: 8 Minute(n)

Wird der Brexit nun endgültig Realität?

Lord Patten of Barnes, Mitglied im Vontobel Advisory Council, spricht über den Wahlausgang. Mit diesem Wahlausgang wir der Brexit real. Wie vereinigt ist das vereinigte Königreich noch nach diesem Votum? Und: wie wird sich das Verhältnis mit der EU nach dem schmerzhaften Scheidungsprozess gestalten? Lesen Sie dazu die Einschätzung von Lord Patten of Barnes.

«Also werden wir vor Ende Januar aus der EU austreten. Auf gewisse Weise beginnt die Geschichte damit aber erst richtig.»

Lord Patten of Barnes, Mitglied im Vontobel Advisory Council

Lord Patten of Barnes, Mitglied im Vontobel Advisory Council vor dunklem Hintergrund

  

Wird der Brexit nach dem Ergebnis der Wahl jetzt wirklich Realität?
Ja – zumindest wird der Brexit jetzt «erledigt werden», gemessen an den Kriterien, mit denen Boris Johnson das Thema in seinem Wahlkampf mit Erfolg definiert hat.

Mit anderen Worten: Johnson hat sich die ursprüngliche Unterstützung für den Brexit sowie grundlegende Bedenken auf Seiten von Konservativen wie Labour gegenüber der Oppositionsführung durch Jeremy Corbin zunutze gemacht. Dadurch verfügt er jetzt über eine grosse Mehrheit für die Ausstiegsvereinbarung, die er vor dem Wahlkampf mit Brüssel ausgehandelt hat.

Also werden wir vor Ende Januar aus der EU austreten. Auf gewisse Weise beginnt die Geschichte damit aber erst richtig. Johnson hat versprochen, vor Ende des Jahres ein neues Handelsabkommen mit der EU auszuhandeln und nicht um eine neue Übergangsperiode zu bitten.

Das ist ausgesprochen irreführend.

Das bislang am schnellsten ausgehandelte Freihandelsabkommen war das mit Südkorea – es dauerte zweieinhalb Jahre, um sich darauf zu einigen, und noch einmal 18 Monate bis zur Verabschiedung. Bei den meisten Freihandelsabkommen wird im Vorfeld sechs bis acht Jahre lang verhandelt.

Es gibt drei offensichtliche Probleme, die bald beginnen werden, die britische Innenpolitik über Monate und sogar Jahre zu dominieren.

  1. Werden wir Ende 2020 eine Verlängerung der Übergangszeit anstreben oder riskieren, ohne Abkommen krachend aus der EU auszuscheiden?

  2. Wie raffiniert kann der Deal sein – müssen wir EU-Vorschriften und Standards akzeptieren, damit Brüssel im Gegenzug Märkte für Grossbritannien öffnet?

  3. Wie werden Unternehmen und Branchen reagieren, wenn es so aussieht, als würden wir uns mit einem einfachen Handelsabkommen zufrieden geben? Die Branchen Auto, Luftfahrt, Chemie, Lebensmittel, Getränke und Pharma haben sämtlich gewarnt, dass dies Risiken für ihre Wettbewerbsfähigkeit bedeuten würde. Aber gleichzeitig werden die rechten Brexit-Hardliner in der Conservative Party unablässig darauf drängen, gegenüber der EU nur minimale Zugeständnisse zu machen.

Das Land heisst «Vereinigtes Königreich». Aber wie vereinigt ist es nach dem Brexit-Drama noch?
Politisch gesehen ist das Vereinigte Königreich eindeutig geteilt durch etwas, das sich als sehr erfolgreiche Kampagne der Konservativen erwiesen hat. Im Grunde haben sie die Brexit Party einfach in sich aufgenommen.

Konservative Wähler sind insgesamt gesehen älter und weisser als andere und leben ausserhalb der wichtigsten Metropol-Regionen wie insbesondere London und dem Südosten. Sie haben tendenziell keine höheren Bildungsabschlüsse. Die langfristige demografische Entwicklung ist, insbesondere mit Blick auf junge Menschen, nicht gut für die Konservativen.

In Nordirland könnte eine konstitutionelle Bedrohung für die Union entstehen, denn dort haben Nationalisten zum ersten Mal besser abgeschnitten als die Unionisten (mit der klaren Perspektive, für die Zukunft ein vereintes Irland anzustreben).

Ein viel grösseres Problem aber ist Schottland. Die schottischen Nationalisten (SNP) haben bei der Wahl 45 Prozent der Stimmen und 48 der 59 Sitze gewonnen, die Konservativen 4 Prozent Stimmanteil verloren. Die SNP hat im Wahlkampf explizit ein Unabhängigkeitsreferendum gefordert – und darüber wird es langfristig unweigerlich einen Konflikt mit der konservativen Regierung geben. Ein schwieriges wirtschaftliches Ergebnis für Grossbritannien insgesamt wird der SNP in die Karten spielen. Allerdings wird sie im kommenden Jahr mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, weil ihr früherer Vorsitzender, Alex Salmond, ab Januar wegen Sexualverbrechen vor Gericht steht.

Wenn Sie fünf Jahre in die Zukunft blicken, wie sehen Sie dann das zukünftige Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU?
Das wird davon abhängen, welche Art von Handelsabkommen zustande kommt. Das Vereinigte Königreich wird als Drittland behandelt werden, sodass jeder Aspekt der Beziehungen Zeile für Zeile einzeln ausgehandelt werden muss. Rechte Konservative glauben, dass Grossbritannien sich einfach von der EU abwenden und ihre Vorschriften und Standards ablehnen kann – sie wollen ein «Singapur an der Themse», einen offenen Markt mit wenig Regulierung. Doch damit missverstehen sie zum einen Singapur und ignorieren zum anderen politische Realitäten (man denke nur an den Streit über Standards des National Health Service in Zusammenhang mit einem Handelsabkommen mit den USA). Insgesamt glaube ich, dass das Vereinigte Königreich in fünf Jahren ärmer sein (laut dem Finanzministerium um 5 Prozent), bei manchen Themen immer noch verhandeln, aber vernünftige Vereinbarungen in Bereichen erzielen wird, in denen wir sehr stark sind, etwa Forschung und Life Sciences. Die ausländischen Direktinvestitionen werden niedriger sein, und es wird eine stetige Abwanderung von Dienstleistungen und qualifizierten Arbeitsplätzen geben. Die Diskussion um Einwanderung wird sich bis dahin auf Fachkräftemangel konzentrieren, nicht mehr auf absolute Immigrantenzahlen. Ausserdem werden wir versuchen, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass wir in unserer jetzt niedrigeren Gewichtsklasse mitkämpfen müssen, nicht mehr in einer höheren.

Wie wird sich das Vereinigte Königreich in der neuen Eigenständigkeit entwickeln? Könnte und wird das Commonwealth eine Rolle dafür spielen?
Das Commonwealth ist eine moderat nützliche Partnerschaft mit den früheren Kolonien und Überseegebieten Grossbritanniens. Der Handel mit ihm ist stark auf fünf Länder konzentriert – Australien, Kanada, Indien, Singapur und Südafrika. Der Handelsüberschuss mit dem Commonwealth beläuft sich auf 4,2 Milliarden Pfund, mit einem starken Übergewicht von Dienstleistungen. In den Commonwealth-Markt fliessen 9,3 Prozent der britischen Exporte, ungefähr so viel wie nach Deutschland. Die Hälfte der britischen Exporte oder ungefähr 13 Prozent des BIP gehen in die EU, und ungefähr 3 Prozent des BIP der EU machen deren Exporte in das Vereinigte Königreich aus. Damit ist fast unvorstellbar, dass sich der britische Verlust von Marktanteilen in der EU mit erhöhten Exporten ins Commonwealth ausgleichen lässt – nicht nur wegen der Entfernung. Um es sehr einfach auszudrücken: Mehr Handel mit Commonwealth-Ländern durch den Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen wird nicht ausreichen, um auszugleichen, was durch erhöhte Reibungen im Handel mit Europa verlorengeht. Auch ein Handelsabkommen mit den USA dürfte weder schnell zu erreichen noch substanziell sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Grossbritannien grosse Veränderungen bei Gesundheits- und Sicherheitsstandards akzeptieren würde.

Wird das Vereinigte Königreich trotz Brexit stärker in der europäischen Verteidigungspolitik involviert sein?
Europäische Verteidigungspolitik ist kein blosser Widerspruch in sich. Die EU-Mitgliedsstaaten haben Mechanismen zur Planung und Koordinierung ihrer Verteidigungsfähigkeit entwickelt. Manche Länder haben begonnen, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Für den Budgetzeitraum 2021 bis 2027 hat die Europäische Kommission 13 Milliarden Euro für Verteidigungsforschung und -entwicklung vorgesehen. Frankreichs Präsident Macron redet weiter auf die anderen ein, mehr zu tun, und hat berühmterweise (und nicht völlig unberechtigt) die Nato als «hirntot» bezeichnet. Doch wenn es um bessere Verteidigungsfähigkeit für den Umgang mit externen Gefahren von Russland bis zu Terrorismus geht, stehen gleich mehrere Füsse auf der Bremse. Erstens wird der Eindruck befürchtet, man könne die USA übergehen und damit genau das US-Desinteresse an Europa fördern, das von Macron und anderen gefürchtet wird. Zweitens sind manche Staaten ausgesprochen besorgt wegen der innenpolitischen Folgen höherer Verteidigungsausgaben, und andere weigern sich, Russland als Bedrohung anzusehen. Das Ausmass der Verteidigungsfähigkeit Grossbritanniens dürfte von der EU klar als wertvoller Vorteil angesehen werden, aber durch das verringerte Wirtschaftswachstum werden seine Verteidigungsausgaben unter Druck geraten. Grossbritannien möchte wahrscheinlich als effektiver Verbündeter der EU auf Gebieten wie Cybersicherheit und Terrorismusbekämpfung gesehen werden. Das Land wird ein begeisterter operativer Partner von Frankreich sein, mit dem wir bereits ein Verteidigungsabkommen haben. Aber London wird wollen, dass alles in einem breiteren Nato-Kontext geregelt wird. Und wenn die Regierung glaubt, dass sie Kooperation bei Verteidigung gegen Zugeständnisse im Handel tauschen kann, täuscht sie sich sehr.

 

Über Lord Patten of Barnes

Lord Patten of Barnes, der in seiner langjährigen Karriere unter anderem EU-Kommissar sowie der letzte Gouverneur von Hong Kong war, der 1997 die Staatshoheit über die ehemalige britische Kronkolonie an die Volksrepublik China übergab. Nach seiner aktiven politischen Karriere war Lord Patten u.a. Kanzler of Newcastle University. Seit 2003 ist er Kanzler der University of Oxford.

  

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