Städte ohne Grenzen – auch für Menschen mit Behinderungen

Insights, Nachhaltige Wertschöpfung, Technologie
06.01.2020 Lesezeit: 5 Minute(n)

Während sich die grossen Metropolen weiterhin mit ihrer generellen Erreichbarkeit abmühen, haben viele kleinere Städte bereits alles getan, um für alle Menschen zugänglich zu sein

Europa, Heimat des grauen Kopfsteinpflasters und der mittelalterlichen Dörfer und Burgen, versperrt sich gegenüber Menschen mit Behinderungen oft durch unüberwindbare Hindernisse. Dies ist natürlich der komplett unterschiedlichen Topografie des Kontinents und seiner Jahrhunderte alten Städte geschuldet.

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©WIRED

Die Europäische Kommission schätzt, dass bis 2020 ein Fünftel der EU-Bevölkerung mit einer Behinderung leben werden müssen. Deshalb bemühen sich zahlreiche Städte darum, ihre Zugänglichkeit zu verbessern, indem sie nicht nur bei der vorhandenen Infrastruktur ansetzen, sondern dieses Thema auch gezielt in ihre Planungen mit einbeziehen. Viele Kommunen widmen den baulichen Massnahmen und dem Einsatz von Hilfstechnologien grosse Aufmerksamkeit, um die allgemeine Erreichbarkeit ihrer Stadt für Anwohner und Touristen zu verbessern.
Während sich die grossen Metropolen mehr mit ihrer generellen Erreichbarkeit auseinandersetzen, sieht man vor allem in kleineren Städten, wie durch eine clevere Mischung aus Design und Technologie öffentliche Räume für alle zugänglich gemacht werden können. Seit 2010 vergibt die EU jedes Jahr den "Access City Award" an die Stadt, deren Barrierefreiheit in der Stadtplanung Priorität einnimmt und die sich als besonders zugänglich präsentiert.
Hier sind fünf Städte in Europa, die dank geschickter Nutzung von Technologie, Design und Technik diesbezüglich grosse Fortschritte gemacht haben.

Breda, Holland

Die mittelalterliche niederländische Stadt Breda, die mit dem Access City Award 2019 ausgezeichnet wurde, ist gebaut wie viele andere europäische Städte. Sie ist die Heimat von mittelalterlichen Strassen aus Kopfsteinpflaster, die den Charme der Stadt noch verstärken. Für Rollstuhlfahrer jedoch sind Kopfsteinpflaster ein Alptraum. Sie können darauf kaum fahren. Breda hat jedoch eine der grössten technischen Errungenschaften im Bereich der städtischen Barrierefreiheit erzielt, indem es seine historischen Pflastersteine nun für alle zugänglich gemacht hat. Die Stadt hat grosse Anstrengungen unternommen, um ein Gleichgewicht zwischen der Beibehaltung ihrer mittelalterlichen Ästhetik und ihrer Zugänglichkeit zu schaffen. In den Strassen von Breda haben Stadtplaner mit Hilfe von speziellen Maschinen die holprigen Pflastersteine quasi glattgebügelt. Sie haben die Steine in Scheiben geschnitten, umgedreht und wieder eingebracht. Dies ermöglichte es Breda, seine Kopfsteinpflaster-Ästhetik beizubehalten, aber die Bürgersteige nun auch für Rollstuhlfahrer befahrbar zu machen. Es war eine grosse technische Leistung der Stadtväter, da das Bauamt aufgrund von EU-Vorschriften die Steine nicht von Hand ausgraben durfte, sondern kleine Maschinen zum Glätten des Bodens verwenden musste.
"Die Pflastersteine hatten allesamt runde Spitzen", sagt Wouter Schelvis, ein Berater für Barrierefreiheit in Breda. "Wir haben diese alten Pflastersteine entfernt, sie umgedreht und sie so gesägt, dass sie noch immer mittelalterlich aussehen." Die Lücken zwischen den Steinen wurden dann mit einer abriebfesten Fuge aufgefüllt, um sie möglichst rollstuhlgerecht zu gestalten. Schelvis erklärt, dass sich die umgedrehten, in Scheiben geschnittenen Pflastersteine grösstenteils in den Bereichen rund um die Kanäle der Stadt befanden und diese zuvor gesperrten Bereiche nun für jedermann zugänglich gemacht wurden.

Rotterdam, Holland

Die Stadt Rotterdam nutzt digitale Technologie, um ihre Zugänglichkeit für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Mobilitätsproblemen zu verbessern. Rotterdam hat eine Richtlinie erlassen, die sicherstellen soll, dass Gehwege keine Unebenheiten von mehr als drei Zentimetern aufweisen. Die Bewohner können mithilfe der "Better Outdoors"-App die Verwaltung auf Mobilitätsprobleme hinweisen. Nach Angaben der Baubehörde werden etwaige Unebenheiten innerhalb von drei Tagen behoben.
Mit der App kann eine behinderte Person mit ihrem Smartphone ein Foto von dem Stolperstein aufnehmen, es mit dem GPS ihres Telefons kennzeichnen, eine Beschreibung hinzufügen und es dann an die Stadtverwaltung senden. Der Benutzer kann dann auch die Behebung seines Problems nachverfolgen, indem ihm mitgeteilt wird, wann die jeweiligen Baumassnahmen stattfinden, bzw. die Gefahrenstelle entschärft wird.
Rotterdam verfügt über eine Einsatzzentrale, die rund um die Uhr für alle Strassen-Probleme oder Notfälle von Menschen mit Behinderungen zur Verfügung steht. „In einer gefährlichen oder unsicheren Situation, in der behinderte Bewohner betroffen sind, ergreifen wir innerhalb von 24 Stunden die notwendigen Massnahmen“, sagt Brigitte Moratis, eine Beamtin der Stadt Rotterdam. "Das ist unsere schnelle Eingreiftruppe."
Die Better Outdoors-App ist mittlerweile so erfolgreich, dass der Entwickler der App nun damit begonnen haben, sie auch in anderen Städten in den Niederlanden einzuführen.

Lyon, Frankreich

Jede Bushaltestelle, 90 Prozent der Kreuzungen und schätzungsweise 200 öffentliche und private Gebäude - einschliesslich der örtlichen Rathäuser, Postämter, Banken, Versicherungen, Geschäfte und der beiden Hauptbahnhöfe (Part-Dieu und Perrache) in Lyon - sind mit akustischen Signalgebern der Firma Okeenea ausgestattet.
Diese Signale unterstützen Sehbehinderte und können mithilfe einer Ein-Knopf-Fernbedienung aktiviert werden, die jedem sehbehinderten Bürger in Lyon kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Wenn diese Taste betätigt wird, erfolgt ein akustischer Hinweis. An Bushaltestellen und Strassenbahnhaltestellen wird zum Beispiel durch den Tastendruck der nächste Bus oder die nächste Strassenbahn angekündigt, durch einen weiteren Druck wird das Ziel angesagt, und durch einen letzten Druck wird die Wartezeit mitgeteilt.
„Wenn die Fussgängerampel auf Grün springt, geben die Geräte einen Laut von sich, der den französischen Vorschriften entspricht“, sagt Laurie Botte, Export-Verkaufsleiterin bei Okeenea, dem Unternehmen, das die Technologie entwickelt hat. "Wenn die Ampel auf Rot stellt, erfolgt ebenfalls eine Meldung. Das Gerät liest auch Strassennamen vor. In öffentlichen Gebäuden ertönt der Name der Einrichtung, sowie deren Öffnungszeit". Die akustischen Helfer können auch mit der Okeenea-App aktiviert werden.

Ljubljana, Slowenien

Die slowenische Hauptstadt wurde in der zehnjährigen Geschichte der Auszeichnung bereits dreimal in die engere Auswahl der EU für den Access City Award aufgenommen. Ljubljana hat aber auch daran gearbeitet, ein integratives Umfeld für Touristen mit Behinderungen zu schaffen.
Die Stadt hat eine App für Rollstuhlfahrer entwickelt, mit der die am besten zugänglichen Hotspots, Restaurants und Hotels kategorisiert werden können. Interessanter ist jedoch die Einführung der "SPEED3X"-Rollstuhlantriebe in Ljubljana. Dieses Zubehör, mit denen Rollstuhlfahrer mit 25 Stundenkilometern durch die Stadt fahren können und die kostenlos im slowenischen Touristeninformationszentrum gemietet werden können, wurden von RTS Medical aus Ljubljana hergestellt.
Die kleinen Zugmaschinen passen an die Vorderseite von Rollstühlen aller Art und ermöglichen es Touristen, die Stadt parallel mit ihren Freunden oder ihrer Familie auf Fahrrädern zu erkunden. Der Trailer hat eine Reichweite von 40 km, so dass die Menschen auch grössere Teile der Stadt entdecken können.
Die Zugmaschine ergänzt andere Mobilitätsprogramme, wie zum Beispiel den städtischen Zug in Ljubljana, der sowohl für Rollstuhlfahrer als auch für Sehbehinderte uneingeschränkt zugänglich ist. Der kostenlose elektrische Zug bietet Touristen mit Sehbehinderungen die Möglichkeit, die Stadt mit einem kostenlosen Audioguide zu erkunden.

Chester, Grossbritannien

Drei Kilometer der 700 Jahre alten mittelalterlichen römischen und sächsischen Mauern erstrecken sich ausserhalb von Chester. Es ist keine leichte Aufgabe, solch ein nationales archäologisches Erbe für alle zugänglich zu machen. Aber genau das haben die Planer getan.
Die Stadt, die 2017 mit dem Access City Award ausgezeichnet wurde, hat es geschafft, diese alten Mauern im Rahmen der geltenden Vorschriften so rollstuhlgerecht wie möglich zu gestalten. Anstatt diese Mauern über Treppen zu erreichen, wurden wellenförmige Rampen gebaut, die über Zugangspunkte zu den Mauern führen.
Die Gemeinde hat auch die Oberflächen der Plattformen geglättet und zusätzliche Handläufe und rutschfeste Böden für die Bereiche angebracht, in denen die Mauern nicht direkt zugänglich sind. Immerhin sind jetzt aber mehr als die Hälfte der Aussichtspunkte über Rampen erreichbar. Insgesamt elf Stück. Die erhöhten Laufstege, Rows genannt, sind auch mit einer Rolltreppe, sowie Aufzügen ausgestattet. Dies war eine schwierige technische Anforderung, da einige der Mauerabschnitte unter Denkmalschutz stehen und die Stadtplaner von Chester die betreffenden Stellen mit viel Bedacht auswählen mussten.
Die Informationstafeln sind nun auch für Rollstuhlfahrer lesbar, da sie auf die richtige Höhe abgesenkt wurden. Weitere Planungen der Gemeinde sehen die Einführung von barrierefreien Bussen und Taxis vor, was Chester zu einer der am besten erreichbaren Städte in Grossbritannien macht.

Über den Autor

Alex Lee ist Autor von WIRED, UK

  

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Wer sind wir? Wie leben wir heute? Und wie wird die Digitalisierung unser Leben verändern? Die Frage nach der Zukunft bewegt die Gesellschaft mehr denn je. Antworten suchen Ingenieure, Mediziner, Politiker und jeder einzelne von uns. Der Report über die Barrierefreiheit europäischer Städte ist einer von zahlreichen Beiträgen, die das Thema «Mobilität» aus einem neuen, inspirierenden Blickwinkel beleuchten. Wir publizieren ihn hier als Teil unserer Serie «Impact».

  

 

  

 

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